Im aktuellen Special des Markenartikel erschien ein von unserem langjährigen Geschäftsfreund Peter Maeschig inspirierter Beitrag mit dem Titel Trägheit in Deutschland.

Hier der Artikel „Trägheit in Deutschland“ im Wortlaut:

Es wird viel geklagt über Stillstand, Verzögerungen und Auf-der-Stelle-treten. Über die Ursachen dieser Trägheit in Unternehmen tauschen sich drei Berater aus und zeigen, wie aus Bequemlichkeit, Rücksicht oder Vorschriften gewaltige gordische Knoten entstehen.

Jens Lönneker: Der Grundtenor unserer Gesellschaft, auf den auch die Wirtschaft abfährt, ist ein Credo, das lautet: Alles muss zugelassen werden, niemand darf benachteiligt werden. Damit kommt man in ein psychologisches Konstruktionsproblem. Jede Entschiedenheit bedeutet, dass jemand ausgeschlossen wird. Umgekehrt heißt das: Wenn wir alle und alles zulassen, kommen wir nicht in eine Entschiedenheit. Wenn heute in Deutschland eine Brücke gebaut wird, gibt es eine riesige Diskussion, ob sie überhaupt notwendig ist. Im nächsten Moment wird darüber gestritten, wo
diese Brücke gebaut wird. Dann gibt es Bürgerinitiativen und Gerichtsverhandlungen. So kommen wir schnell auf einen Bauzeitraum von 15 Jahren. Alles bleibt am Ende träge stehen.

Dr. David Strack: In Deutschland sind wir sehr sensibel und schauen immer, wen etwas negativ betreffen könnte. Das führt zu einem Handlungsstillstand. Diskriminierung ist ein wichtiges Thema, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht überregulieren und uns nur in unserer kleinen Welt drehen. Denn der Handel ist ein internationales, globales System. Wir beschäftigen uns hier mit Dingen, mit denen sich andere nicht beschäftigen. Wenn wir uns anschauen, wie sich Handelsmodelle entwickeln und Entscheidungsprozesse ablaufen, zeigt sich unsere Trägheit.

Lönneker: Dann könnte man allerdings einwenden, dass der deutsche Einzelhandel international ein Erfolgsmodell ist.

Strack: Wenn man auf den Lebensmittelhandel in Deutschland schaut, sieht man, dass manche Dinge nur sehr schleppend vorangetrieben werden. Zwei Hauptthemen sind Waste Management und nachhaltiges Sourcing. Die Themen spielen international eine große Rolle, bei uns aber nicht. Das liegt vor allem daran, dass wir im Bereich Digitalisierung nicht so weit sind. Die Angelsachsen sind bei der Abfallwirtschaft viel fortschrittlicher, weil sie Vorhersagesysteme haben, die ihnen helfen, Müll zu vermeiden.

Lönneker: Auch in Deutschland haben wir aber digital erfolgreiche Händler – zum Beispiel Zalando.

Strack: Zalando oder international MyTheresa sind positive Beispiel. Bei diesen Anbietern ist nicht alles nur billig, sondern sie sind extrem serviceorientiert und sehr modern. In Deutschland gibt es viele ursprünglich sehr erfolgreiche Einzelhändler wie C&A, Peek&Cloppenburg oder Adler. Die sind alle tot. Der Möbelhandel wird die nächste Branche sein, die es erwischt. Dort geht es nur um den Preis. Im Handel haben wir viele Branchen, die nicht modern sind und
nicht mit den Verbraucherinteressen gehen. Da würde ein Blick nach Asien lohnen, wo es sehr moderne Konzepte gibt – auch mit Blick auf das Sourcing.

Lönneker: Hier gibt es durch das Lieferkettengesetzt hierzulande Bewegung.

Strack: In vielen Teilen ist die Intention des Lieferkettengesetzes auch gut. Ein wichtiger Ansatz wäre aber, sich proaktiv mit den Haupterzeugerländern wie China zusammenzusetzen, um Sourcing-Strategien zu entwickeln. Stattdessen warten wir ab. Wir ignorieren konsequent junge Konsumentengruppen. Im Grunde müsste jedes Unternehmen seine Marktforscher auf TikTok loslassen. Ich kenne kein einziges Unternehmen, das sich mit TikTok auseinandersetzt. Wir sitzen in unserem Schneckenhäuschen und ignorieren die Welt. Die gesamtpolitische Konstellation, in der stark auf »verwalten statt regieren« gesetzt wird, färbt das auf die Unternehmen ab. »Bloß mit keiner Erneuerung ankommen« – so lautet die Devise.

Lönneker: Vor Jahren schon habe ich für einen Teeproduzenten gearbeitet und wir waren für Verpackungen zuständig.
Die Range war lange nicht verändert worden. Plötzlich standen sie vor dem Thema, dass sie doch verändert werden musste, weil das Packungsdesign in die Jahre gekommen war. Denn das Unternehmen hatte über Jahre hinweg die Preise erhöht. In den Tests wurde nun deutlich, dass die Konsumenten genauer hinschauen, was die Produkte kosten, wenn die Packungen verändert wurden. Darüber gerieten sie in ein paradoxes Problem: Wenn ich die Packung nicht verändere, verliere ich immer mehr Kundschaft. Wenn ich sie ändere, verliere ich sie aber auch. Es war eine Trägheit, von der man eine Zeitlang sogar profitiert hat und die sich erst Jahre später als problematisch herausstellte.

Strack: Ja, das sind Skimming-Strategien. Als ich bei Mediamarkt war und vorschlug, dass man sich als Elektronikhändler mit dem Thema Internet stärker beschäftigen sollte, haben alle gesagt: »Wir schreiben ein Rekordergebnis nach dem nächsten. Was willst du eigentlich von uns?« Mir wurde gesagt, dass die Kunden niemals Unterhaltungselektronik im großen Stil im Netz kaufen werden, weil sie zu erklärungsbedürftig ist. Man hätte eine eigene Digitalisierungsoffensive starten müssen. Vor allem die Schulung und Beratung der Mitarbeiter sind dabei wichtig. Als es anfing, dem Unternehmen schlecht zu gehen, hat man aber als erstes die Schulungskonzepte gestrichen. Die Konsumenten waren teilweise besser informiert als die Mitarbeiter. Warum werden solche Dinge nicht früher proaktiv angefasst? Warum fragt man sich nicht kritisch, ob das, was ich dem Kunden anbiete, noch überzeugend ist –
und es vor allem auch in Zukunft sein wird? Konzepte müssen für morgen gedacht werden.

Lönneker: Ich glaube, wir sind uns einig, dass eine Trägheit vielfach in den Strukturen vorhanden ist. Es wäre sinnvoll, sich stärker damit zu befassen, was der Grund dafür ist und was man dagegen tun kann. Eine Empfehlung wäre, Störungsroutinen einzuführen. Was können wir abschaffen? Was muss neu werden?

Peter Maeschig: Es gibt zunehmend eine Diskrepanz in den Corporate-Strategien und der Schnelligkeit, mit der sich die Gesellschaft und damit die Kunden verändern. Wir haben auf der Geschwindigkeitsachse unterschiedliche Momenti. Sie haben mit Rheingold den Begriff Hypersensibilität entwickelt. Die jungen Generationen reagieren viel sensibler auf moralisierende Verhaltenskodizes als es vor ein paar Jahrzehnten der Fall war. Wir haben eine wachsende Schar von Konsumenten, die einen überfunktionalen Nutzen von Produkten und Dienstleistungen erwarten, die für einen wirtschaftlich Denkenden unvorstellbar sind. Wir nehmen Rücksicht auf Befindlichkeiten, die eine Art Lifestyle geworden sind. Jedes Unternehmen sollte mit einer größeren Entschiedenheit über das reden, über das es reden will. Wichtig ist eine erhöhte Einfühlsamkeit. Nicht alles, was man performancemäßig gut findet, sollte man auch so sagen. Man sollte ehrliche Angebote unterbreiten, die jedem Einzelnen das Gefühl geben, dass man sich nicht außerhalb einer Norm befindet. Wir müssen uns von dem Denkmodell verabschieden, dass Unternehmen dem Markt immer etwas anbieten müssen, das besser und schneller ist. Komparative zählen nicht mehr.

Lönneker: Das Interessante ist, dass es eine lange Zeit darum ging, Normen und Grenzen zu überwinden. Mehr Freiheiten, mehr Freude, mehr Spaß. Marken boten diese Versprechen. Sie haben aber zugleich auch versprochen, dass man sich keine Sorgen machen muss, über die Stränge zu schlagen. Die individuelle Freiheit hat heute jedoch psychologisch den Reiz verloren. Ich habe so viele Freiheiten, dass ich gar nicht mehr weiß, wo es langgehen soll. Außerdem stresst mich das. Das ist der Game-Changer für die Marken. Man wünscht sich Orientierung und will, dass einem gesagt wird, was richtig und was falsch ist.

Maeschig: Es gibt eine französische Feministin, die von der permanent beleidigten Generation und der Plage der Sensibilität redet. Wie geht man mit einer Kundenschar um, die permanent beleidigt ist? Das ist die Herausforderung für Unternehmen, diesen Zustand der permanenten Seelenerregung zu bedienen.

Strack: Wir reden über ein neues Orientierungs- und Wertemuster. Unternehmen müssen das verstehen und sich selbstkritisch damit auseinanderzusetzen. Es geht nicht mehr um billiger, sondern um Regelkonformität. Die Hypersensibilität darf nicht unterschätzt werden.

Maeschig: An dieser Stelle würde ich gerne die Frage diskutieren, wie ich das Problem löse. Ich bin ein Gegner der brachialen Disruption. Das geht in den meisten Fällen schief, weil die Klienten diese Art der abrupten Veränderung nicht verkraften. Wenn ich einen alten Vertrieb komplett durch einen digitalen Plattformvertrieb ersetze, muss ich damit rechnen, dass meine Firma kurzfristig an den Rand des Abgrunds getrieben wird. Die Alten machen nicht mehr mit, das Neue funktioniert noch nicht. Die zerstörerische Kraft der Kreation liegt nicht im mutwilligen Zerstören. Es
muss sich vieles verändern, aber im Sinne eines konstruktiven Zerstörungsprozesses, in dem man sich überlegt, was man erhält und wie man dem Ganzen ein neues Wahrnehmungsspektrum gibt.

Strack: Ganz wichtig ist die Statusbestimmung. Unternehmen müssen verstehen, wieso sie da sind, wo sie sind und in den Augen der Konsumenten definieren, was die Lösung ist. Das ist ein echter Transformationsprozess. Der dauert lange, aber er ist seriös.

Maeschig: Zunächst müssen wir beobachten, dann können wir verstehen und Schlussfolgerungen ziehen. Gerade in einer Zeit, in der sich viel bewegt, ist es wichtig, sich dafür die Zeit zu nehmen.

Lönneker: Die neuen Technologien regen dazu an, Reaktionen auf bestimmte Aktionen schnell digital zu erfassen und datenanalytisch auszuwerten. Bei Unilever ist meines Wissens die Anzahl der Researcher abgebaut worden und die der Datenanalytiker gestiegen. Das Problem ist, dass dabei die Frage des Verstehens nachrangig ist.

Strack: Das Beschäftigen mit möglichen Befindlichkeiten produziert ein extremes Hemmnis, auch mit Blick auf den Datenschutz. Wenn mir jemand tolle Angebote macht, wenn ich ihm meine Daten gebe, warum soll ich sie ihm dann nicht geben? Damit haben die meisten Verbraucher kein Problem. Aktuell werden Daten gesammelt, aber nicht genutzt. Kundenorientierung bedeutet nicht, sich mit Befindlichkeiten zu beschäftigen, sondern mit Lösungen, die die
Verbraucher wollen. Wir sind immer noch im Wandel von einer angebots- und industriedominierten zu einer endkonsumenten- und nachfrageorientierten Wirtschaft, in der Produkte gebaut werden, wenn es eine ausreichende Nachfrage gibt.

Maeschig: Es geht nicht um die Orientierung an der Befindlichkeit, sondern um eine Berücksichtigung der Befindlichkeit. Wir müssen sie präzise beobachten, um die richtigen Schlussfolgerungen für Produktkonzepte zu finden.

Strack: Wenn ein Unternehmen einen Purpose definiert und zeigt, dass es an diesem arbeitet, sind Verbraucher bereit, den Weg mit dem Unternehmen zu gehen. Das muss wirklich gelebt werden und transparent sein. Es muss nicht im ersten Moment perfekt sein, aber es muss eine Entwicklung in eine Vision erkennbar sein. Das führt in Deutschland aber leider zu Stillstand, denn man möchte immer diese Überperfektion und vermeiden, dass man kritisiert wird.

Maeschig: Das ist ein wichtiger Punkt. Purpose sollte nicht als eine endgültig entstandene Entscheidung verstanden werden, sondern als Ziel. Und auf diesen Weg begibt man sich. Meist fehlt in den Unternehmen die faktische Übertragung des Purpose in die Organisation. Es geht darum, die Menschen mitzunehmen und ihnen zu erklären, dass man daran arbeitet, sich zu verändern.

Lönneker: In Deutschland haben viele Unternehmen Angst, etwas auszuprobieren, weil man vorgeworfen bekommt, dass man etwas nicht richtig gemacht hat, anstatt dass gesagt wird: »Schön, dass du es probiert hast.« Darüber verlieren wir schnell die visionäre Kraft.