Der Megatrend ‚Liquid Youth‘ scheint oberflächlich betrachtet als reiner Jugendkult. Doch mit Blick auf die Tiefenpsychologie zeigt sich, dass in dieser neuen Sehnsucht nach Unsterblichkeit nicht nur etwas Vergängliches und im Prinzip Unwiederbringliches wie die Jugend soll „verflüssigt“ werden soll. Ines Imdahl wurde zu diesem  aktuellen Thema für das Ladies Drive Magazin No 67 interviewt, das seit dem 3. September 2024 erhältlich ist. Das Interview im Wortlaut lesen Sie hier. Die Fragen stellte Claudia Gabler.

Das Longevity-Business jubelt, während die Hälfte der Gesellschaft fast daran zerbricht: Älterwerden gilt als Defizit. Als Makel. Nur die Jugend zählt. Was bedeutet der Anspruch an ewige Jugendlichkeit für unsere Psyche? Wohin führt uns die Sehnsucht nach Unsterblichkeit? Ist mit 50+ wirklich Schluss? Die Psychologin Ines Imdahl kennt die Antworten – und will dem Altern einen neuen Wert geben. Was verstehst du als Psychologin unter „Liquid Youth“?

Ines Imdahl: Tiefenpsychologisch stecken interessante Bilder im Begriff „Liquid Youth“: etwas Vergängliches und im Prinzip Unwiederbringliches wie die Jugend soll „verflüssigt“ werden. Die sinnbildlich in Reagenzgläser abgefüllte Jugend wird so für Ältere wieder verfügbar. Die immer beliebter werdenden Blutplasma-Transfusionen, die die Hirnalterung aufhalten sollen, von jüngeren an ältere Menschen zeigen die geheime Vorstellung von „flüssiger Jugend“ besonders deutlich. Immer schon haben Menschen begehrt, was nicht unbegrenzt verfügbar oder vergänglich war. Und immer schon haben sie versucht dies zu reproduzieren. Flüssige Jugend ist wie das Gold der Neuzeit. Unsere Kultur betreibt ähnlichen Aufwand Jugend künstlich herzustellen wie die Alchimisten seinerzeit bei der Herstellung von Gold. Durch das nahezu magische Bild der Verflüssigung wird Jugend beweglich und kann scheinbar überall „hineinfließen“ – auch ins Alter.

Woher kommt dieser Megatrend? Was sind seine Ursachen?

Ines Imdahl: Macht, Einfluss sowie Bedeutsamkeit sind heutzutage an Jugend und Schönheit geknüpft. Damit symbolisiert sichtbare Jugend heute die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Diese wiederum ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie war aber bei weitem nicht immer an das Jung-Sein geknüpft. Religiöse Vorstellungen von der Wiederauferstehung des Körpers oder der Himmelfahrt der Seele bedienen die gleiche Sehnsucht nach Unsterblichkeit. In westlichen Kultur-Kreisen sind Versprechen auf ewiges Leben im Jenseits aber nicht mehr so bedeutsam wie früher. Heute ist der Glaube an die ewige Jugend an irdische Fortschritte der Medizin geknüpft. Paradoxerweise gehen damit oft magische Wirkvorstellungen einher. Kaum ein Tag vergeht, an dem keine Wunderpillen, -spritzen oder -behandlungen gegen das Altern auf den Markt kommen. Unser starker Fortschrittsglaube, gepaart mit dem Wunsch Jugend wirklich „verflüssigen“ zu können, führt zu einer Art magischem Denken. Nahezu alles scheint möglich. Und lässt uns nur allzu leicht glauben, bei Verspechen rund ums Jung-Bleiben sei alles Gold ist, was glänzt.

Worin siehst du Gefahren, insbesondere für Frauen?

Ines Imdahl: Für Frauen ist der Druck die Möglichkeiten zu nutzen, zu machen, was möglich ist, viel größer. Denn Jugend ist viel enger an das Thema Schönheit geknüpft. Frauen wird immer noch – unbewusst – mitgegeben, attraktiv sein zu müssen, um sich einen Partner oder auch Job zu angeln. Kompetenz oder guter Charakter sind hier seltener ausschlaggebend. Über das Äußere von Frauen wird in der Öffentlichkeit mehr gesprochen als über alle anderen Leistungen. Frauen selbst bemessen ihren Wert oft – ebenfalls unbewusst – an ihrem Äußeren. Viele (Soziale) Medien prangern unverblümt an, wenn eine prominente Frau irgendwo eine Alterserscheinung mehr aufweist. Aller Body-Positivity zum Trotz scheint alt auszusehen zunehmend zur Zumutung zu werden. Natürlich wird sich auch mokiert, wenn die Schönheit durch Botox oder aufgespritzte Lippen allzu künstlich hergestellt aussieht. Jugend und – scheinbare – Natürlichkeit sind das Ideal.

Erkennst du auch Chancen?

Ines Imdahl: Bei aller Kritik an der Fokussierung auf die Äußerlichkeiten, die ich teile, bringt Liquid Youth für die Frauen neue Spielräume und Freiheitsgrade. Altersnormen, Verhaltensregeln werden ebenfalls fließend, Longivity-Konzepte helfen nicht nur jung auszusehen, sondern eben auch gesünder alt zu werden.

Du führst aktuell eine Studie „50+ und Schluss“ durch. Was ist der Hintergrund für diese Studie?

Ines Imdahl: Die Idee der Studie knüpft daran an, dem Altern einen eigenen neuen Wert zu geben. Denn wir haben aktuell kein positives Bild des Alters. Es ist wertlos im Vergleich zu Jugend. Auch weil es immer häufiger werden wird. Aber sollte es deswegen unattraktiv sein? In rund fünf Jahren sind etwa 50 Prozent der Menschen in der DACH-Region über 50. Außerdem werden alle Menschen 50 plus in einen Topf geworfen. Haben wir in Unternehmen und der Werbung eine Differenzierung von Zielgruppen in 10 Jahres Schritten, sind Menschen, die älter als 50 sind in einer Zielgruppe mit den eigenen Eltern! Dabei ist man mit 50 genauso weit weg von 20 wie von 80. Werbetreibende, Markenanbieter und auch die Personalsuche fokussieren aber durchgängig auf die Gen Z. Jung ist nicht nur Trend, sondern das Maß aller Dinge. Wir finden, das ist Grund genug einen Gegentrend zu initiieren, aufzuräumen mit Vorurteilen und Klischees rund um das Älter-werden.

Was bedeutet das für uns als Menschen, als Unternehmerinnen, als Managerinnen, als Wirtschaftsstandort, als Firma oder als Gemeinschaft?

Ines Imdahl: Wir können viel mehr Potential heben, wenn wir dem Älter-Sein nicht immer nur einen Mangel an Jugend zuschreiben, sondern einen Mehrwert an Erfahrungen, Wissen, Stolz und Gelassenheit. Früher wurden Menschen bewundert, die ein gewisses Alter erreichten. Zu diesem Stolz sollten wir zurückkehren und verstehen, dass jede Lebensphase einen Sinn und Mehrwert hat. Und nicht allein eine große Menge etwas wertloser macht als Seltenes. Im Gegenteil: es kann auch eine große Kraft für Unternehmen und unsere Gesellschaft darin gesehen werden. Viele Markenanbieter glauben zum Beispiel, sie müssen unbedingt Gen Z für sich gewinnen, um mittelfristig nicht zu sterben. Dabei können sie sich allein mit dem Fokus auf Ältere eine sofortige Lebensverlängerung verschaffen – von bis zu 30 Jahren. Viel weiter plant kaum ein Unternehmen.

Die Leute sollen immer länger arbeiten gehen, fallen aber ü50 durch das KI-Raster der HR-Abteilungen. Was ist hier zu tun?

Ines Imdahl: KI ist Teil unseres zum Teil unhinterfragten Fortschrittglaubens. Ihr wird ein fast schon religiös blindes Vertrauen entgegengebracht. Entscheidungen werden kaum hinterfragt. Genau da liegt das Problem: KI sollte nicht entscheiden. Sie ist kein unfehlbarer Gott. Sie trifft unglaubliche Entscheidungen, weil sie nur das berechnen und lernen kann, womit sie gefüttert wird. Inzwischen ist auch klar: KI verstärkt eher bestehende Diskriminierungen als sie aufzulösen*. KI sollte – egal wo – als Unterstützung und Arbeitsentlastung fungieren. Nie aber selbst- und eigenständig Entscheidungen über Jobs, Kredite oder gar Strafmaße verhängen dürfen, ohne die Möglichkeit menschlicher Einflussnahme.

Welche Art von Leadership ist in unserer „50 über 50“ Gesellschaft gefragt?

Ines Imdahl: Das mag jetzt schlicht klingen, aber meine Antwort lautet: menschliches Leadership. Führung, die alle Vorteile des Mensch-Seins berücksichtigt: Diversitäten, unterschiedliche Stärken, Empathie und Empfindsamkeiten. Gerade und auch durch menschliche Fehler, durch Unperfektes und Unvorhersehbares entwickeln wir uns gemeinsam weiter und lernen. Perfektion ist nicht nur langweilig, sondern auch ein Entwicklungskiller.

Hast du drei Empfehlungen für unsere Leser:innen, wie sie dem Altern konstruktiv begegnen können?

Ines Imdahl: 1. Jugendtrend als persönliche Chance begreifen, die eigenen Freiheitsgrade zu steigern. Denn Weibliches ist oft – unbewusst – noch in vielen Konvention gefangen.
2. Sich durch den Jugendwahn nicht unter zusätzlichen Druck setzen lassen, sondern nur das nutzen, was persönlich glücklich macht und Freude bereitet.
3. Einen Gegentrend starten, um das Alter aufzuwerten. Alter hat schließlich jeder! Am Gegentrend kann jeder mitwirken, bei sich selbst und in seinem persönlichen Umfeld. Denn: wer glaubt, er sei zu klein, um etwas zu bewirken hat noch nie mit einer Mücke in einem Zimmer geschlafen.