Welche Rolle gerade Zeitungen in der heutigen Medienlandschaft zwischen Overkill & Bashing spielen und welche demokratiestärkende Wirkung sie vermitteln können, erzählt Jens Lönneker im Interview mit Heike Turi zur Themenwoche ‚Zeitungen‘ in der turi2.
Hier geht es zum Artikel. Nachfolgend das Interview im Wortlaut:
Jens, Du bist Vater von vier Kindern – um welchen Teil der Zeitung streitet Ihr am meisten?
Jens Lönneker: Was für ein grauenhaftes Szenario! (lacht). Der Vater als anachronistischer Herr einer Printausgabe, mit dem sich der Rest der Familie um die Teile streiten muss, ist sicher ein Auslaufmodell. Dafür gibt es heute viele digitale und analoge Formate moderner Zeitungen. Unsere vier Kinder nutzen unterschiedliche digitale Angebote etablierter Medien: Push-Formate, Apps, YouTube- oder TikTok. Auch deshalb ist es sinnvoll, dass Zeitungen eine Zukunft haben.
Das Ergebnis Eurer Studie „Medien zwischen Achtung & Ächtung“ hat Dich erschreckt. Warum?
Jens Lönneker: Wirklich viele Menschen sind offenbar in den letzten Jahren für die heutige Demokratie verlorengegangen! In welchem Umfang sich ein großer Teil der medienaversen Menschen gar nicht mehr als Teil dieser Gesellschaft erlebt, das hat mich schon sehr erschreckt. Jeder Vierte zählt zu den Medienaversen – und 68 Prozent von ihnen fühlen sich von Politik und System allein gelassen. In den vertiefenden Interviews ist das wirklich sehr, sehr deutlich geworden. Und es zeigt, wie wichtig die Medienakzeptanz für die Stabilität einer Gesellschaft ist. Nach der Studie habe ich unsere Gesellschaft noch fragiler erlebt als vorher.
Wie begründen die Menschen ihre Abneigung gegenüber Zeitungen und Medien?
Jens Lönneker: Die Studie beschäftigt sich bewusst mit den sogenannten „etablierten Medien“. Es ist eine Kategorie, die so oder ähnlich formuliert, aus Sicht der meisten Mediennutzer besteht. Dazu zählen sie die Angebote der großen Fernseh- und Hörfunksender, die Zeitungen und Zeitschriften wie „Spiegel“, „Focus“ und „Stern“. Es gibt drei große Komplexe und Gruppen, die eine Abneigung gegen diese Medien motivieren und ausleben.
Die wären?
Jens Lönneker: Zu allererst der sogenannte Medien-Overkill: Immer mehr Medienangebote konkurrieren mit immer größerer SEO-Lautstärke um die Aufmerksamkeit. Ein Teil der Menschen reagiert darauf mit Medienverweigerung, es regt sie viel zu sehr auf. Das ist ein Phänomen, das auch andere Studien in vielen westlichen Ländern gefunden haben.
Und Punkt 2?
Jens Lönneker: Ist die Medien-Aggression: Diese Mediennutzer sorgen sich um ihre Zukunft und vermissen eine politische Führung, die ihnen Zuversicht gibt. Die etablierten Medien erleben sie dabei als Sprachrohr der politischen Nomenklatura und reagieren aggressiv. Sie sprechen von Lügenpresse, Fake News und zweifeln die Darstellungen grundsätzlich immer an.
Puh, und Punkt 3?
Jens Lönneker: Ist das Medien-Bashing: Diese Gruppe kritisiert zwar die etablierten Medien, reibt sich aber an ihnen und nimmt sie immer wieder als Bezugsrahmen. Die ersten beiden Gruppen sind nur sehr schwer zurückzugewinnen, die dritte steht sozusagen auf der Kippe.
Braucht die Gesellschaft noch Zeitungen?
Jens Lönneker: Die heutigen veränderten Formen der Mediennutzung und Alltagsorganisation erfordern es, neue Formate zu entwickeln, die sich von den klassischen Angebotsformaten lösen. Arbeitspausen, in denen man noch eine Zeitung lesen kann oder will, gibt es eben kaum mehr. Es besteht jedoch ein Bedarf an Formaten, die ein tägliches Update an Informationen anbieten. Der Streit der Zeitungsverleger mit den Öffentlich-Rechtlichen um deren Online-Angebote zeigt jedoch, dass sich die Nachfrage von den klassischen Formaten löst und um die neuen zunehmend gerungen wird.
Was machen die Zeitungen richtig?
Jens Lönneker: Richtig ist sicherlich die konsequente Ausrichtung auf digitale Angebote und deren Weiterentwicklung. Ebenso die kontinuierliche Arbeit an neuen Bezahlmodellen. Meines Erachtens kommt dabei die Diskussion um die journalistische Arbeit selbst zu kurz. Ich persönlich bin ein großer Fan des konstruktiven Journalismus, weil er auch inhaltlich eine neue Perspektive und ein Fresh Up für die Zeitungen bietet.
Was machen die Zeitungen falsch?
Jens Lönneker: Ich finde, Zeitungsverlage müssten viel mehr gemeinsam tun, um ihre Interessen gemeinsam mit anderen Stakeholdern wie den Werbetreibenden und der Politik gegenüber den großen Tech-Konzernen zu vertreten. Die Werbespendings, die zu den Tech-Giganten wechseln, fehlen einfach. Auch wenn man regional ein Zeitungsfürst ist – im Weltmaßstab der Tech-Konzerne ist der einzelne deutsche Zeitungsverlag eben nur eine kleine Nummer. Ziel sollte es sein, gemeinsam für die eigenen Formate wieder mehr Werbeeinahmen zu generieren.
Haben die Zeitungen den Kampf gegen die sozialen Medien bereits verloren?
Jens Lönneker: In Krisen werden gerade etablierte Medien wie die Zeitungen gerne genutzt. Sie entwickeln weiterhin mehr Glaubwürdigkeit und Seriosität. Es geht darum, digitale Zeitungsangebote auch im Raum der Social Media immer weiter zu etablieren. Initiativen wie #UseTheNews sind spannende Projekte auf diesem Weg.
Welche Rolle spielen Zeitungen bei der politischen Meinungsbildung?
Jens Lönneker: Zeitungen haben es in Verbund mit den anderen etablierten Medien in der Vergangenheit geschafft, einen Konsens darüber zu schaffen, wie die regionale oder nationale Gemeinschaft das Geschehen in der Welt betrachtet hat. Sie haben die Wirklichkeit quasi kuratiert. Durch diesen Konsens haben sich die meisten Bürger auch als Teil der Gemeinschaft und des politischen Systems erlebt. Diese gemeinsame Sicht ist eine wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz einer Demokratie. Jürgen Habermas zählt diese Form der Massenmedien daher zu den Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie. Insofern brauchen wir Zeitungen – gerade in der Abdeckung der lokalen und regionalen Räume. Dort, wo sie fehlen, wird es schwieriger.
Werden die Zeitungen ihrer Rolle gerecht?
Jens Lönneker: Wenn man die Rolle der Zeitungen so versteht, dass sie so etwas wie den regionalen Relevant Set abbilden, versuchen sie es weiterhin – aber mit immer weniger finanziellen Ressourcen und immer mehr digitaler Konkurrenz. Eigentlich müssten sie heute oft noch lokaler und regionaler präsent sein, um diese Relevanz zu bekommen. De facto stehen dafür aber immer weniger Ressourcen zur Verfügung. Es ist ein Strukturproblem, dass die Zeitungen wie auch andere etablierte Medien nicht allein lösen können. Fatalerweise gibt es aber nur sehr wenige Initiativen, die an diesen Strukturen etwas ändern wollen. Es sollte uns aber nicht egal sein, weil es die Stabilität unserer Gesellschaft angreift.
Was müsste jetzt passieren?
Jens Lönneker: Angesichts der Gesamtlage sollten viel mehr neue Maßnahmen gemeinsam evaluiert und die Ergebnisse geteilt werden. Generell kann man aus meiner Sicht wie Sebastian Turner darauf hoffen, dass junge Start-ups dieses Feld für sich neu entdecken, weil es heute eigentlich nur geringe finanzielle Mittel braucht, um ein digitales Medium zu produzieren. Oder aber es kommt zu einer konzertierten Aktion der relevanten Stakeholder aus Politik, Werbungtreibenden und Zeitungen bzw. etablierten Medien, die ernsthaft an den Strukturen arbeiten. Einfach wird das alles nicht. Aber es geht!