Redakteurin Anna Schmid von Focus Online hat Jens Lönneker befragt, warum er zur Zeit die Studie „Medien zwischen Achtung und Ächtung“ für seine persönlich wichtigste hält.
Hier lesen Sie das Interview im Wortlaut. Oder Sie nutzen den Link:
Jens Lönneker ist Tiefenpsychologe. In seiner bisher „wichtigsten Studie“ hat er sich mit Medienkritikern auseinandergesetzt: Menschen, die den Massenmedien nicht mehr vertrauen. Lönneker sagt: „Die Ergebnisse haben mich persönlich sehr schockiert.“
FOCUS online: Herr Lönneker, lesen Sie eigentlich noch Zeitung?
Jens Lönneker: Ja, sehr gerne sogar. Ich bin da oldschool. Ich sehe die Zeitung nicht als lästiges Überbleibsel aus früheren Zeiten, sondern freue mich, dass sich Journalisten die Mühe machen, Nachrichten aufzubereiten und mich zu informieren.
So begeistert wie Sie sind nicht alle von den etablierten Medien. Ihre Untersuchung „Medien zwischen Achtung und Ächtung“ zeigt das.
Lönneker: Das stimmt.
Sie sagten vor einiger Zeit, das sei die „wichtigste Studie“, die Sie je durchgeführt haben.
Lönneker: So ist es auch. Weil es um Demokratie und deren Voraussetzungen geht. Dazu gehören etablierte Medien, die von allen – oder zumindest den meisten Menschen – respektiert werden. Bei denen die Leute das Gefühl haben, dass sie die Wirklichkeit so abbilden, wie sie ist.
Wenn ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr daran glaubt, dann ist unser Zusammenleben gefährdet. Die Studie zeigt, dass ein Viertel der Bevölkerung die etablierten Medien nicht mehr für vertrauenswürdig hält. Damit ist die Systemfrage gestellt.
Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Lönneker: Dass enorm viele Menschen nicht mehr an die Art und Weise der Nachrichtenaufbereitung glauben, wie wir sie über Jahre hinweg betrieben haben. 25 Prozent der Menschen sagen: Ich traue dem Ganzen nicht mehr, ich glaube, die Politik hat die Medien beauftragt, so zu berichten, und so weiter. Das habe ich vor der Studie nicht für möglich gehalten. Nicht in diesem Umfang.
Warum nicht?
Lönneker: Es gab zwar Untersuchungen, die die Glaubwürdigkeit der Medien kritisch beleuchtet haben. Aber es ist doch etwas anderes, wenn man selbst ganz nah dran ist. Unsere Studie bestand aus zwei Teilen: tiefenpsychologischen Interviews und standardisierten Fragebögen. Vor allem in den Interviews habe ich hautnah erfahren, wie medienverdrossen viele Menschen sind. Das hat mich persönlich sehr schockiert.
Ist Ihnen eine Situation aus den Gesprächen besonders im Gedächtnis geblieben?
Lönneker: Wenn ich so darüber nachdenke: Ja. Mir saß eine Frau gegenüber, deren Eltern aus der Türkei stammen. Sie ist Deutsche mit Migrationshintergrund. Im Interview hat sie mir erklärt, dass sie findet, es würden zu viele Ausländer nach Deutschland kommen. Sie war der Meinung, dass die Thesen der AfD zu wenig in den Medien präsent sind. Die AfD hat sie nicht als ausländerfeindlich empfunden.
Keine Reaktion, mit der man rechnen würde.
Lönneker: Ja. Da war ich erst mal verblüfft.
Hat die Frau gesagt, warum sie so denkt?
Lönneker: Sie war der Meinung, dass Deutschland sehr viel Geld ausgibt, um Flüchtlingsströme zu bewältigen. Und wir das Maß verloren haben. Auch hier liege vieles im Argen, sagte sie. Kaputte Straßen, marode Brücken und eine Bahn, auf die man sich nicht verlassen kann. Die Frau fand, wir würden uns zu wenig um uns selbst kümmern. Als ich ihr zugehört habe, ist mir klar geworden, wie vorurteilsbehaftet viele Diskussionen sind.
Die Frau ist mit ihrer Haltung nicht allein. Wie Sie schon sagten: 25 Prozent der Deutschen sind laut Ihrer Studie Medienkritiker. Wie kommt das?
Lönneker: Es gibt einen generellen Grund, den wir ausgemacht haben: Diese Menschen haben das Gefühl, dass die etablierten Medien ihre Anliegen nicht mehr spiegeln. Die Frau, von der ich eben gesprochen habe, ist ein gutes Beispiel. Sie macht sich Sorgen, dass wir uns zu wenig um uns selbst kümmern.
Sie ist keine Ausländerhasserin, hat ja selbst Migrationshintergrund. Und an ihren Befürchtungen ist etwas dran: Die Deutsche Bahn ist lange kaum saniert worden, unsere Brücken haben schon bessere Tage gesehen. Diese Themen findet die Frau kaum oder zu wenig in der Mainstream-Presse.
In Ihrer Studie teilen Sie Medienkritiker in drei Gruppen ein. Welche?
Lönneker: Da sind zum einen die, die eine Art „Medien-Overkill“ erleben und versuchen, wenig bis gar keine Nachrichten mehr zu konsumieren. Das gibt es in Deutschland, aber auch international. Ich denke, das hat unter anderem mit der Art und Weise, wie Nachrichten präsentiert werden, zu tun. Die ist oft aufmerksamkeitsheischend, skandalös, alarmistisch, sehr negativ. Einige Nutzer fühlen sich dauererregt. Das kann zu Vermeidungsverhalten führen.
Welche Gruppen gibt es noch?
Lönneker: Die zweite Gruppe findet sich in der Medienberichterstattung nicht wieder. Ich erinnere mich an einen jungen Ernährungs- und Fitnesscoach, mit dem ich für unsere Studie ein Interview geführt habe. Er gehörte zu dieser Gruppe.
Was hat ihn ausgemacht?
Lönneker: Seine Frau und sein Kind sind gegen Covid-19 geimpft, er selbst nicht. Im Gespräch wurde klar, dass er sich sehr allein fühlt. Dass er denkt, er könne sich nur auf sich selbst und seinen Körper verlassen.
Für diesen Mann war die Idee, sich etwas spritzen zu lassen, das keine langfristigen Tests durchlaufen hat, eine Horrorvorstellung. Er hat seine Perspektive in den Medien nicht wiedergefunden: Nur die des Idioten, der für Argumente unzugänglich ist und ausschließlich an sich selbst denkt.
Und was haben Sie gedacht, als Sie die Argumente des Mannes gehört haben?
Lönneker: Ich konnte seine Perspektive verstehen. Er war für mich plötzlich kein Covidiot mehr. Das zeigt, wie wichtig es ist, einander zuzuhören. Nicht jeder, der eine andere Meinung vertritt, ist automatisch ein Idiot.
Kommen wir zur dritten Gruppe.
Lönneker: Das sind Menschen, die Reibung suchen. Sie kritisieren die etablierten Medien, beschäftigen sich aber auch intensiv mit ihnen. Interessanterweise ist diese Gruppe am zugänglichsten. Das kann man sich vorstellen wie in einer Beziehung: Streit wirkt manchmal heilsam.
Lassen sich „Medienverdrossene“ denn wieder für die Mainstream-Presse begeistern?
Lönneker: Ich denke, jede dieser drei Gruppen ist auf ihre Weise zugänglich. Die Überforderten, also die erste Gruppe, würden vielleicht wieder mehr Nachrichten konsumieren, wenn sie nicht so überspitzt daher kämen. Wenn alles etwas „gedämpfter“ wäre. Das hat aber nichts mit geschönter Berichterstattung zu tun, nur so am Rande.
Was ist mit denen, die sich nicht wiederfinden? Wie dem jungen Fitnesscoach?
Lönneker: Ich denke, wenn wir anfangen, uns wieder mehr zuzuhören und mehr Auseinandersetzungen zuzulassen, dann wäre ein besseres Miteinander möglich. Interessant wäre zum Beispiel, mehr Gespräche mit Menschen zu veröffentlichen, die gegensätzliche Meinungen vertreten.
Solche Debatten können sehr bereichernd sein. Aktuell sehe ich bei den etablierten Medien leider die Neigung, Lagerdenken zu befeuern. Nach dem Motto: hier die Nazis, da die, die moralisch auf der richtigen Seite stehen. Hier die Verschwörungstheoretiker, da die Vernünftigen.
Hat die AfD etwas mit der „Medienverachtung“ zu tun?
Lönneker: Vorweg: Wir haben Mediennutzer befragt, keine Repräsentanten der Partei. Spannend ist aber, dass diejenigen, die eine starke Medienaversion entwickelt haben, oft sagen, sie fühlen sich von System und Politik allein gelassen. Sie haben eine hohe Bereitschaft, Parteien, die das „System“ kritisieren, zu wählen. Dazu gehören zum Beispiel AfD und BSW.
Dass sich einige Menschen so abgehängt fühlen, klingt alarmierend.
Lönneker: Ist es auch. Es gibt namhafte Medientheoretiker, die sagen: Ohne Massenmedien schaffen wir es nicht, die Demokratie zu erhalten. Sie tragen maßgeblich zu ihrer Legitimation bei. Durch Massenmedien partizipieren Menschen an der Gesellschaft, am System. Umso gefährlicher ist es, wenn jeder Vierte den etablierten Medien nicht mehr vertraut und sich von ihnen abwendet.
Dazu kommt, dass die Massenmedien noch mit anderen Problemen zu kämpfen haben.
Lönneker: Das stimmt. Vielen von ihnen wird die wirtschaftliche Substanz entzogen. Die Werbeeinnahmen gehen zurück. Dann sind da noch die großen Technologiekonzerne, die zunehmend unsere mediale Grundversorgung bestimmen. Auf EU-Ebene wird immerhin gerade versucht, den Einfluss von Big Tech einzudämmen.
Zurück zu den konkreteren Inhalten Ihrer Studie. 78 Prozent der Medienkritiker stimmten der Aussage „Wir fahren Deutschland an die Wand, wenn wir so weiter machen – aber in den Medien ist das zu wenig Thema“ zu. Was denken Sie: Haben diese Menschen Recht?
Lönneker: Da sollten wir noch hinzufügen, dass 41 Prozent derjenigen, die die etablierten Medien akzeptieren, der gleichen Meinung sind. Irgendetwas scheint an dieser Bewertung also dran zu sein. Es gibt wenig Optimismus. Das ist ein Alarmsignal an die Medien, aber auch an die Politik. Menschen, die den Glauben ans System verloren haben, werden anfällig für Populismus, radikalisieren sich, und so weiter.
Gerade, wenn es um die Politik geht, hört man oft: Wir brauchen Ergebnisse und keine leeren Versprechen.
Lönneker: Ja, viele Menschen wollen Resultate sehen. Dann wird ihnen erklärt, dass das alles nicht so einfach ist, dass es Regeln gibt und Abstimmungen mit anderen Ländern nötig sind. Solche Dinge eben. Das ist frustrierend und die Ungeduld wächst. Vielen ist der „Verbesserungsprozess“ zu komplex. Dann bekommen Parteien Zulauf, die sagen: Die Krise lässt sich einfacher lösen.
Was könnte die Politik denn besser machen?
Lönneker: Zum einen mehr zuhören. Denn Zuhören zeigt Zuwendung und schafft neue Perspektiven. Oft sind die entscheidenden Anliegen und Sorgen der Bürger hinter Reizthemen wie Corona, EU, Putin verborgen: die geringe Anerkennung vieler ostdeutscher Lebensschicksale, die Schulprobleme während der Coronazeiten, die Schwierigkeiten im Gesundheitssystem, eine teilweise marode Verkehrsinfrastruktur. Hier fühlen sich viele Bürger nicht wahrgenommen.
Zum anderen sollte die Politik schon aus Eigeninteresse nicht zusehen, wie die wirtschaftliche Basis vieler regionaler Medien immer weiter schwindet. Es handelt sich um ein strukturelles Problem, dass einzelne Medien nicht lösen können. Ohne seriöse regionale Medien verschwinden auch die Bühnen für eine regionale Politik und ihre demokratische Basis.
Und was können Journalisten tun?
Lönneker: Auch hier gilt: Wir müssen lernen, wieder zuzuhören. Menschen, die das Gefühl haben, sie bekommen wenig Beachtung, schlagen irgendwann um sich. Journalisten sollten sich bemühen, unvoreingenommen in Gespräche zu gehen.
Sich immer wieder fragen: Stecke ich gerade jemanden in eine Schublade? Habe ich mein Gegenüber wirklich verstanden? Wichtig ist, sich auch mit vermeintlich unliebsamen Meinungen auseinanderzusetzen und niemanden direkt als Idioten abzustempeln.
Was denken Sie: Wenn wir so weitermachen, wohin steuert die Gesellschaft?
Lönneker: Das Erste, was mir einfällt ist: Die Tendenz zu weniger lokalen Medien wird sich festigen. Schon jetzt kann man von einem Zeitungssterben reden. Das führt zum nächsten Schritt: Wo die regionalen Medien nicht mehr vorhanden sind, nimmt der Populismus zu, das haben Studien gezeigt.
Was heißt das also?
Lönneker: Ich habe die Hoffnung, dass es eine Gegenbewegung geben wird. Wir sollten uns engagieren. Besser kommunizieren. Es gibt verschiedene Initiativen, Menschen, die sich einsetzen, um wieder mehr Medienvertrauen aufzubauen. Aber vor allem gilt: Wir müssen uns unbedingt wieder besser zuhören. Zuhören baut Brücken zu neuen Sichtweisen.