Corona – Fortschritt aus Angst vor der Angst

von lönneker & imdahl rheingold salon

Corona

kultur & gesellschaft, Unkategorisiert, veröffentlichungen

Corona – Fortschritt aus Angst vor der Angst

von lönneker & imdahl rheingold salon

Die Deutschen tun alles, um Angst vor Corona zu vermeiden. Das treibt sie an, führt zu Fortschritt und prägt auch die Erwartungen an die Kommunikation in Zeiten von Corona.

Viele der aktuellen persönlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten lassen sich psychologisch als eine Art Vorwärtsverteidigung gegen die Angst vor den Folgen von Corona verstehen. Damit ist hier mehr gemeint als eine allgemeine Sorge vor einer Infektion. Es ist die Angst vor dem Verlust von Ordnung, Stabilität und Sicherheit.

Diese ganz persönliche Angst, wie sie etwa im Zitat der ZDF-Moderatorin Andrea Kiewel deutlich wird, soll nach Möglichkeit gar nicht erst aufkommen. In den Befragungen begrüßen die Teilnehmer daher, wie schnell in Deutschland bürokratische Organisationen plötzlich umfangreichste Rettungspakte umsetzen können. Und sie schildern sich als sehr empfänglich für Maßnahmen, die ihnen die Angst vor einer ungewissen Zukunft nehmen sollen. Paradoxerweise führt dies dazu, dass viele Menschen die Zeit des Lockdowns sogar als angenehm und wohltuend erleben – »mal raus aus dem Hamsterrad «.  Laut täglicher Zeit-Umfrage ‘Wie geht es Ihnen heute?’ verzeichnete etwa während des Lockdowns die höchsten je gemessenen ‘Gute-Laune’-Werte.

Die Angst vor der Angst führt psychologisch dazu, dass sie umgedeutet und überkompensiert werden soll. Politische Akteure wie der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ralf Brinkhaus verspüren dies und propagieren: »Die Krise ist eine riesige Chance.« Digitalisierung, Fortschritt, Neuausrichtung oder auch Ärger, Proteste, dominieren in den Diskussionen wie in den Befragungen die Perspektiven auf die Zukunft. Die Angst wird überdeckt: Fortschritt aus Angst vor der Angst.

Es ist, als ob plötzlich durch ganz Deutschland ein Ruck geht und das bisherige Miteinander neu betrachtet und überdacht wird: Corona wird zum Ausgangspunkt und Zentrum dafür, dass Dinge anders gemacht werden sollen oder alte Konzepte neu ins Spiel gebracht werden. Wie kann in der Kommunikation darauf reagiert werden? Wichtig ist zu verstehen, dass der eigentliche Motivator die Vermeidung von Angst ist. Dazu ist gut, das Thema Angst noch etwas besser zu verstehen. Die berühmte Psychoanalytikerin Anna Freud unterschied zwischen drei verschiedenen Angstursachen: Realangst, Angst vor der Triebstärke und Angst vor dem Über-Ich. Alle drei Angstformen lassen sich zurzeit beobachten. Ihnen können Erwartungen an die Kommunikation zugeordnet werden:

“Um stark aus der Corona-Krise zu kommen, brauchen wir eine Entfesselung der Wirtschaft.” Ralf Brinkhaus, Vorsitzender der Bundestagsfraktion von CDU und CSU auf Twitter am 21.05.2020

“Ich persönlich hätte gern mein altes Leben zurück. (…) Ich gebe ehrlich zu, ich dachte immer, ich sei stabil, aber jetzt weiß ich: Ich bin es nicht. “ Andrea Kiewel, ZFD-Moderatorin am 24.05. im ZDF-Fernsehgarten

“Für mich ist Corona die größte Verarschung der Weltgeschichte. Ich kann das nicht ernst nehmen. Ich weiß nicht, ob unsere Regierung uns mal alle austesten wollte oder so. Ich glaub da jedenfalls nicht dran.” K.S. am 7.05. in einer Gruppendiskussion in Köln

Bewältigung von Realangst

Für den weitaus größten Teil der Bevölkerung steht die Realangst vor Corona im Vordergrund: Nimmt man die Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung im ZDF-Politbarometer als Maßstab, handelt es sich zurzeit um ca. 85 Prozent der Wahlberechtigten. Sie sind bereit, aus Angst vor Corona Opfer in Form von einschränkenden Maßnahmen zu bringen. Welche Erwartungen verbinden sie aber mit diesen Opfern?
  1. Sicherheit / Stabilität: In der Kommunikation werden Werte wie Gemeinschaft, Kontinuität, Absicherung, Vertrautheit, Stabilisierung der Kundenbeziehungen extrem geschätzt. Gerade für Marken bestehen daher gute Chancen an Relevanz zu gewinnen.
  2. Re-Novieren: Zugleich besteht eine hohe Bereitschaft, den privaten und beruflichen Alltag neu und anders zu gestalten, um eben diese Sicherheit trotz Corona wiederherzustellen. Die Kommunikation soll daher auch zukunftstaugliche Wege aufzeigen, die Produkte und Marken bieten können – vor allem bei digitalen Services, in den Bereichen Gesundheit, Ernährung und Fitness, in der Lebensqualität und bei der finanziellen Absicherung.

Akzeptierte Medienformate spielen formal oft mit einem Mix aus traditionellen und modernen Stilelementen. Auffällig ist, dass klassische Kanäle wie lineares TV ein gewisses Revival erleben.

Angst vor der Triebstärke

Die Corona-Maßnahmen haben lustvolle Aktivitäten – Ausgehen, Dating, Partys, Reisen – deutlich eingeschränkt.

Auch aggressive Neigungen können weniger – etwa in sportlichen Wettkämpfen – ausagiert werden. Ein kleiner Teil der Bevölkerung kämpft daher stark damit, die unterdrückten, eigenen seelischen Impulse im Griff zu behalten. Sie neigen dazu, die bestehenden Einschränkungen als unangemessen und übertrieben einzustufen oder sogar Verschwörungstheorien anzuhängen. In den Medien bekommen die Kritiker viel Raum und Beachtung. Sie artikulieren dem Anschein nach stellvertretend auch für die Gesamtbevölkerung Wünsche danach, wieder mehr

Räume für lustvolle Momente zu ermöglichen. Wie kann dies die Kommunikation aufgreifen?

  1. Neues Miteinander: Der Verlust der sozialen Nähe hinterlässt eine Sehnsucht nach neuen Formen des Miteinanders – ob über digitale Trainingsprogramme, Events in Autokinos oder Klatschen auf Balkonen. So richtig erfolgreiche Lösungen scheinen aber noch nicht gefunden. Produkte und Marken, die Gemeinschaft und soziales Miteinander stiften helfen, sind daher hochwillkommen.
  2. Individual-Bühne: Letztlich wollen die Beteiligten sich selbst auf der Bühne sehen können. Produkte und Marken, die dabei helfen, ihre Kunden ‘berühmt’ zu machen, sind daher sehr willkommen.

Nähe und Distanz müssen in der Kommunikation neu justiert werden. Neue Formate zu finden, ist eine der zentralen Herausforderungen. Individuelle Formen der Ansprache etwa über Social Media und CX-Maßnahmen finden weiterhin große Akzeptanz.

Rebellion gegen das gesellschaftliche Über-Ich

Die Corona-Maßnahmen werden von einem Teil der Bevölkerung auch so ausgelegt, dass die Politik, die Wirtschaft, das System – also das gesellschaftliche Über-Ich – zu viel Macht für sich in Anspruch nimmt und den Einzelnen in seinen Grundrechten zu sehr beschränkt. Sie reklamieren, dass die von der politischen Führung aufgestellten Regeln nicht sinnvoll sind, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse angeblich nicht berücksichtigt oder die Corona-Gefahr systematisch überbewertet wird. Auch beim größeren Rest der Bevölkerung besteht im Kern eine latente Unsicherheit darüber, ob Daten, Fakten und Maßnahmen wirklich so ausgelegt werden müssen, wie es die Führung zurzeit tut.
Diese Gruppe findet medial dennoch ebenfalls immer mehr Beachtung. Wieso erhält sie diese Aufmerksamkeit und was lässt sich für die Erwartungen an eine Kommunikation daraus ableiten?

  1. Verweigern/Neu-Ordnen: Die Corona-Krise befeuert Tendenzen, der als VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Amibiguity) erlebten Welt etwas entgegenzusetzen. Die als schön und erholsam empfundenen Aspekte des Lockdowns sollen nicht einfach wieder aufgegeben werden. Es wird nach Wegen gesucht, sich dem Hamsterrad zu verweigern. Der Lockdown wird zum Slowdown, führt zu Zurückhaltung beim Einkaufen. In der Kommunikation wird nach neuen Alltags-Ordnungen mit mehr Lebensqualität und weniger Stress gesucht.
  2. Entfesselung: Die Corona-Krise soll vor diesem Hintergrund Energien und Kräfte für neue Entwicklungsschübe entfesseln und die Politik die Rahmenbedingungen dafür schaffen. In der Kommunikation sollen Wege aufgezeigt werden, wie das möglich ist.

Es besteht eine höhere Bereitschaft, sich mit neuen und anderen Medienformaten und -kanälen auseinanderzusetzen. Neue, alternative Botschaften und Formen der Kommunikation können mehr Beachtung finden.

Angst vor der Angst nehmen

Die Wünsche nach Entfesselung und Neu-Ordnen sind in unseren Befragungen immer vorhanden, werden aber eher verhalten artikuliert. Denn sie machen auch sehr viel Angst. Die Teilnehmer befürchten, dass als Kollateralschaden Wirrköpfe und Verschwörungstheoretiker auf die Bühne kommen und daraus Chaos entstehen kann. Das macht dann wieder Angst und bremst die Neigung, neue Entwicklungen zuzulassen. Kommunikation, die es schafft die Angst vor der Angst zu nehmen, ist so gesehen, ein wirklich wertvoller Beitrag zu Fortschritt und Weiterentwicklung.

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