Personas oder die erfundenen Zielgruppen

von Jens Lönneker

Sind Marken noch relevant?

Unkategorisiert, unternehmen & wirtschaft, verfassungsmarketing & zielgruppen, veröffentlichungen, wissenschaft & theorie

Personas oder die erfundenen Zielgruppen

von Jens Lönneker

Finden heißt erfinden. Fiktionen können paradoxerweise Unternehmen dabei helfen, die Realität besser zu bewältigen. Die heutigen Personas-Konzepte machen sich diesen seelischen Kunstgriff methodisch zu Nutze: Komplexe Marktrealitäten können besser durch Strategien gemanagt werden, die sich an prägnanten, verdichteten, aber fiktiven Persona-Gestalten ausrichten. Aber das Personas-Konzept tendiert dazu, die Unternehmen von ihren Marktrealitäten wegzubewegen. Wenn Personas zu Projektionen von unternehmensinternen Wünschen oder Problemen werden, wird ihr Einsatz problematisch. Ihr methodischer Ansatz sollte daher immer einen Realitätscheck beinhalten. Moderne Ansätze wie Verfassungen, Mind- oder Mood States schaffen ebenfalls prägnante Profile für das Management. Sie können das Zusammenspiel von Fiktion und Realitätsanforderungen jedoch besser bedienen als der Rückgriff auf Personas-“Charaktere”.

1 Die These

Der verstärkte Einsatz von Personas zeigt eine Krise an. Unternehmen wissen in der Überkomplexität der heutigen Zeit nicht mehr, wie sie sich ausrichten sollen. Das Personas-Konzept verspricht da Abhilfe: Rückzug auf einfache fiktive Personas-Gestalten und die Archetypen – die Urgründe menschlichen Verhaltens und Erlebens. Personas sind jedoch verführerisch gefährlich: Sie managen oft mehr die unternehmensinternen Probleme als die Realität des Marktes. Dabei könnten gerade Fiktionen paradoxerweise dazu beitragen, die Realität besser zu bewältigen.

2 Ausgangslage

Personas sind einer der neuesten Hits bei der strategischen Ausrichtung von Unternehmen – insbesondere bei der Planung von Marketing- und Kommunikationsaktivitäten. Es handelt sich um ein Phänomen, das vor allem in der Praxis des operativen Managements von Unternehmen Furore macht. Führungskräfte des Unternehmens oder die für den jeweiligen Aufgabenbereich Verantwortlichen erarbeiten in Meetings Personas, die die Zielgruppen des Unternehmens nachvollziehbar und anfassbar charakterisieren sollen. Dabei wird oft mit einer externen Agentur operiert, die den Prozess moderiert.

In die Erstellung der Personas werden Marktforschungserkenntnisse, Erfahrungen im Unternehmen – etwa durch Kundenberatung oder Vertrieb – sowie generelle Expertisen, wie sie auf der Führungsebene vorhanden sind, einbezogen. Am Ende des Prozesses stehen in der Regel mehrere individuelle Profile, die sich durch eine Mischung aus soziodemographischen Angaben wie Alter, Geschlecht, Bildung sowie Knowhow oder Verhaltensvorlieben rund um das jeweils relevante Marktsegment auszeichnen. Hier ein Beispiel:

Leni (24): Interessierte und fortgeschrittene Computer-Nutzerin (Textverarbeitung und Internet), studiert BWL und fotografiert am Wochenende gerne alle ihre Freundinnen.

Harald (65): Witwer und Rentner, hat von seinen Enkeln eine Digitalkamera geschenkt bekommen, besitzt aber keinen Computer und kann daher auch nicht damit umgehen. Dennoch möchte er natürlich die fotografierten Bilder ausdrucken und in sein Fotoalbum kleben.

Sara (43): Migrantin, spricht und versteht kaum Deutsch und soll aber nun die Fotos ihres Sohns entwickeln, der gerade selbst keine Zeit dazu hat. Einen Computer kann sie aber nicht bedienen.

Dabei sind sich die am Prozess Beteiligten alle vollkommen darüber im Klaren, dass es diese Personen nicht wirklich gibt. Es geht vielmehr gerade darum, fiktive Personen zu entwickeln. Sie werden erfunden, damit sich die Beteiligten ihre Zielgruppen besser vorstellen können. Es handelt sich demnach um einen methodischen Kunstgriff: Indem man die Personas erfindet, wird es paradoxerweise einfacher, Unternehmensstrategien zu entwickeln, als die dem Unternehmen vorliegenden Erfahrungen und Daten nicht zu einer solchen fiktiven Persona zu komponieren.

Die Persona ist dabei letztlich eine Art Zwischenwesen – ein strategischer Zombie: Sie basiert zum einen auf realen Daten und Erfahrungen, ist aber zugleich mehr und weniger. Denn zum einen wird zugunsten eines prägnanteren Bildes ein Teil der Verhaltensbandbreite der Zielgruppen nicht oder weniger stark berücksichtigt; zum anderen wird das vorliegende Erfahrungswissen aber in eine Gestalt in Form eines Persönlichkeitsprofils gebracht, das eine reichere, größere Sinnhaftigkeit entwickelt als es die real erfahrene Streuung des Verhaltens vermitteln kann: Die unbestimmte Masse ihrer Anwender wird durch Personas greifbar gemacht und ermöglicht es allen Projektbeteiligten, die Anforderungen der Nutzer in den Fokus der Entwicklung zu stellen.

Das eigentliche Versprechen, das in der Erstellung der Personas liegt, geht über das Greifbar- und Anfassbarmachen von Anwendern, Kunden, Käufern hinaus. Das große Versprechen liegt vielmehr darin, dass es gerade durch die Fiktion der Personas paradoxerweise ermöglicht sein soll, die tatsächlichen Anforderungen der Nutzer in den Fokus der unternehmerischen Entwicklungen zu stellen. Kann das gehen? Welche Chancen und Grenzen sind mit diesen Pseudo-Realitäten verbunden? Können sie – als erfundene Profile – dabei helfen, die tatsächlichen Realitäten besser zu managen und zu gestalten?

Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen ist zum einen eine vertiefende Beschäftigung mit dem Begriff und dem Bedeutungsumfeld von Persona hilfreich. Zum anderen gilt es der Frage nachzugehen, ob das Bemühen um eine Abbildung von Realität Prozesse auch behindern kann bzw. ob eine fiktive Anreicherung einen besseren Fokus auf die Anforderungen dieser Realität ermöglicht.

3 Personas historisch – Schnittstelle und Vermittlungsmedium zwischen Ich und Außenwelt

In seinen Ursprüngen im griechischen Altertum stand der Begriff Persona für das Gesicht, aber auch für die Maske, durch die während eines Theaterstückes gesprochen wurde. In den Anfängen der ersten systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen wurde das Gesicht in der Ausdruckspsychologie von Ludwig Klages wie ein Medium aufgefasst, das mit seinem Ausdruck auf dahinterliegende seelische Verfassungen verweist mit den Augen als Spiegel der Seele. Auch bei Klages ist das Gesicht aber eben nicht nur eine Offenbarung der seelischen Zustände, es ist zugleich auch eine Maske, die oft die tatsächlichen Empfindungen verbirgt oder sozial erwünscht kaschiert. Dennoch legten es die Beiträge von Klages nahe, den Gesichtsausdruck in die psychologische Eignungsdiagnostik zu integrieren, wie es dann Philipp Lersch etwa bei der Beurteilung von Lehramts- oder Offiziersanwärtern bereits vor dem zweiten Weltkrieg betrieben hat. Der Begriff der Person wurde bei Lersch weit gefasst: Person steht nicht mehr nur für das Gesicht, sondern für eine psychologische Konstruktion, in die sowohl psychische Eigenarten als auch sozial erwünschte Verhaltensformen einfließen. Lersch führte dazu in seinem Schichten-Modell der Person u. a. den personellen Oberbau ein, in dem mit dem Weltinnewerden und dem Wollen der passive und aktive Bezug zur Welt angesiedelt werden.

Als ein weiterer Protagonist und Zeitgenosse von Klages und Lersch ist Carl Gustav Jung anzusehen, der in seinem tiefenpsychologischen Modell explizit von Personas spricht. Die meisten der heute verwendeten Personas-Darstellungen nehmen Bezug auf Jung und bringen die Personas i. d. R. auch in Zusammenhang mit seiner Lehre von den Archetypen. Daher kann man archetypische Nutzertypen als Personas bezeichnen (Usability.de, o. J.). In seiner Konkurrenz zu Sigmund Freud war Jung darum bemüht, eigene tiefenpsychologische Systematisierungen des Individuums vorzunehmen. Während Freud in einem seiner zentralen Modelle von der Psyche das Ich im Spannungsfeld zwischen Es, Über-Ich und Außenwelt ansiedelte, entwickelte Jung eine Darstellung, die mehr zwischen den sichtbaren, vordergründigen und den schattenhaften, hintergründigen Aspekten menschlichen Erlebens und Verhaltens differenziert. Die Personas stellen dabei den Bereich des Seelischen dar, der zwischen der Außenwelt der Gesellschaft und dem Ich-Bewusstsein, dessen persönlichen und archetypischen Schattenseiten vermittelt. Die vermittelnde Funktion der Persona bei Jung verläuft in zwei Richtungen: Die Gesellschaft bekommt die geballte Wucht der zum großen Teil nicht bewussten seelischen Schattenseiten durch die Personas-Ausbildung nur in kulturell akzeptierter Form zu Gesicht. Und zum anderen kann die Kultur über die Personas Einfluss nehmen auf die Gestaltung des Ichs und seiner Schattenseiten.

4 Personas heute – ein Abwehrmechanismus gegen eine komplexe Realität?

Auf den ersten Blick hat die historische Auslegung von Personas bei Klages (1936), Lersch (1938) und Jung (1934) wenig mit der heutigen Verwendung des Begriffs zu tun. Personas wurden von diesen Autoren nicht als Fiktion verstanden, sondern als konkrete, reale, psychologische Phänomene bzw. Instanzen der Psyche. Insofern ist der Rekurs auf Jung und insbesondere auf seine Auffassung von Archetypen für das heutige Verständnis von Personas falsch. Wie könnte es aber dann zu dieser Zuordnung gekommen sein? Ein Hinweis für eine Erklärung kann darin liegen, dass ein zentraler Aspekt der Personas ihre Maskenfunktion darstellt: ob als Theatermaske bei den Griechen oder als moderne psychologische Konstruktion, die seelische Zustände kaschieren bzw. in sozial akzeptierte Ausdrucksformen bringen kann. Auch eine Maske gibt letztlich nicht die Realität wieder. Sie ist eine Fiktion, und zwar in dem Sinne, dass sie nicht das echte, wahre Gesicht zum Ausdruck bringt. Personas sind den Masken verwandt, weil sich in ihnen wie in der Jungschen Auffassung die Erfahrung verdichtet, dass Menschen sich selbst gestalten und anders geben können als es ihrem inneren, wahren Empfinden entspricht. Ein weiterer Aspekt besteht auch darin, dass seelische Verfasstheiten durch äußere Einflüsse geformt und gestaltet werden können.

Den Aspekt der Gestaltung und Formung im menschlichen Verhalten und Erleben kennzeichnet also bereits die historische Auffassung von Personas. Er wird nun in gewisser Weise in der modernen heutigen Auffassung von Personas weitergetrieben: Sie werden hier mehr als künstliche Gestalten im idealtypischen Sinne verwendet. Wieso wird dann aber nicht der in den Sozialwissenschaften gängige und akzeptierte Begriff des Idealtypus benutzt? Im Vergleich zu den rationalen Idealtypen, wie sie etwa Max Weber beschreibt, sind Personas individueller, personenbezogener und weniger rational. Der beschriebene Verhaltensausschnitt ist auch tendenziell kleiner. Durch den Bezug zu den Jungschen Archetypen der Menschheit schwingt im Personas-Konzept immer auch etwas von archaischen, unbewussten Grundmustern mit. Die Archetypen bilden dabei einen sehr allgemeinen und die konkreten Verhaltensphänomene transzendierenden Background. In der Praxis besteht eine große Auslegungsbreite in der Zuordnung zu den Archetypen. So kann die Grundrichtung des Helden-Archetypus so dargestellt werden, dass es dem Helden bei seinen Aktionen um Herrschaft geht. Zugleich und parallel dazu existiert aber auch die Vorstellung von einem eigenen Herrscher-Archetypus, dem es wiederum um Kontrolle geht. Diese Verwendung der Archetypen, die sich von der deutlich differenzierteren bei C. G. Jung (1934) unterscheidet, bekommt dadurch schnell einen Horoskop-Charakter: Man kann darin sehen, was man darin sehen will.

Während das Modell der Idealtypen von der Vorstellung eines idealen Ablaufs, einer idealen Ausgestaltung ausgeht, die in der Praxis Störungen ausgesetzt sein kann, ist bei der Personas-Verwendung weniger klar, wie und nach welchen Kriterien die Fiktionalisierung letztlich erfolgt. Der Rekurs auf die Archetypen verschleiert die Kriterien eher. In der Praxis fließen Informationen über das tatsächliche Erleben und Verhalten der Nutzer ein und werden für die Personas-Konstruktion so kuratiert, verdichtet und gestaltet, dass die Prozessbeteiligten und Stakeholder damit gut arbeiten können. Entscheidend ist somit die Akzeptanz derjenigen, die die Personas erstellen: Fühlen sie sich wohl damit, haben sie den Eindruck, dass sie dadurch die Anforderungen der Nutzer besser in den Fokus der Entwicklung nehmen können.

Im Prozess der Personas-Erstellung wird so die Komplexität und die Varianz menschlichen Erlebens und Verhaltens letztlich reduziert und beseitigt. Dies ist auch das erklärte Ziel, wie es in den folgenden Ausführungen zur heutigen Personas-Anwendung deutlich wird: Marktforschungsdaten allein sind oft schwer greifbar und lassen den Menschen hinter den Zahlen schnell in Vergessenheit geraten. So betrachtet sind Personas eine elegante, intelligente Konstruktion für diejenigen, die mit ihnen arbeiten. Sie beseitigen für das Management im Unternehmen den Ballast einer allzu komplexen Kunden- oder Marktrealität und schaffen durch eine Vereinfachung und Vereindeutigung wieder Handlungs- und Bewegungsfreiheit.

Personas lassen sich in ihrem heutigen Verständnis daher wie ein grandioser Abwehrmechanismus auffassen: Er reduziert Komplexität und schafft neue Freiheitsgrade, obwohl er scheinbar die Komplexität des Kundenverhaltens nicht in Frage stellt. Wie bei jedem Abwehrmechanismus hat dieses Vorgehen aber auch problematische Kehrseiten: Die Gefahr besteht darin, eine fiktionale Personas-Scheinwelt aufzubauen, die mit der Kundenrealität nur noch wenig zu tun hat – die man dann aber umso überzeugter mit Scheinlösungen behandelt.

5 Chancen und Grenzen von Pseudo-Realitäten für das strategische Vorgehen

Für den Historiker und Bestseller-Autor Yuval Harari (2017) ist es eines der herausragenden Merkmale des Menschen, dass er Welten erfinden kann. Am Beispiel der Marke Peugeot stellt er heraus, dass mit Peugeot eine Markenwelt verbunden ist, die sich von den Gründern, einzelnen Führungskräften, konkreten Fahrzeugen und Modellen, Standorten oder Fabriken losgelöst hat. Die Marke Peugeot ist daran nicht mehr gebunden, sie ist eine Konstruktion, die nur in unseren Köpfen existiert – eine Erfindung. Paradoxerweise, so stellt Harari heraus, hilft uns diese Erfindung aber dabei, besser mit der realen Welt zurechtzukommen. Kann man Personas auch als einen solchen menschlichen Kunstgriff verstehen?

Hararis Darstellung lässt sich durch gestalt-psychologische Experimente ergänzen und vertiefen. Die gestaltpsychologischen Erkenntnisse zeigen, dass wir unsere Wahrnehmung in „Gestalten“ oder „Felder“ ordnen. Bei Schwierigkeiten und Problemen erfinden wir die Welt quasi neu, indem wir sie in andere Gestalten transformieren oder das Feld neu ordnen. Der Ast eines Baumes rückt z. B. erst dann in den Blick, wenn nach einer Stütze oder einer Verlängerung der eigenen Armreichweite gesucht wird. Vorher war er in der Wahrnehmung nicht relevant. Wir entwerfen sozusagen eine Gestalt von der Welt, indem wir Dinge hervorheben oder nicht beachten. Tiefenpsychologische Erkenntnisse zeigen, dass solche Gestaltungen nicht nur die Wahrnehmung der Außenwelt, sondern auch die Anforderungen der Innenwelt organisieren.

Wenn es also über Personas gelingt, eine Gestaltung des vorliegenden Erfahrungswissens in einem Unternehmen vorzunehmen, kann dies Unternehmensprobleme lösen helfen: So können bei den Mitarbeitern Unsicherheiten, an wen sich Produkte und Werbung richten sollen, über die prägnante Darstellung einer Kunden-Persona deutlich reduziert werden. Personas können zudem helfen die Meinungsbildung im Unternehmen zu steuern und eine Art Common Sense im Unternehmen darüber herstellen, wie man sich die Zielgruppen vorzustellen hat. Gerade in der Behandlung von unternehmensinternen Meinungsvarianzen liegen somit viele insgeheime Vorteile des heutigen Personas-Ansatzes. Diese unternehmensinterne Funktion der Personas ist eigentlich die wichtigere, sie bleibt in den Darstellungen aber meist eher im Hintergrund.

Im Vordergrund steht vielmehr ihre Leistung bei der Ausrichtung auf die externen Anfor- derungen der Nutzer, Zielgruppen, Zuschauer etc. Einmal entwickelte Personas sind in den Unternehmen dabei meist gesetzt. Markt- und Medienforschung sollen sie zwar häufig zum Ausgangspunkt ihrer Forschung machen, sie aber nicht überprüfen oder hinterfragen. Dies ist verständlich, wenn man ihre unternehmensinterne Bedeutung und Funktion mitdenkt. Es ist i. d. R. ein aufwändiger Prozess, alle relevanten Mitarbeiter zu einer spezifischen Sichtweise auf die Zielgruppen zu bewegen. Die Widerstände dagegen, Personas-Ansätze noch einmal empirisch zu überprüfen und zu verändern, verweisen somit auch darauf, dass ihre unternehmensinterne Funktion wichtiger ist als ihre strategische Bedeutung bei der Marktbearbeitung.

Die Verwendung von Pseudo-Realitäten kommt damit an einen kritischen Punkt. Dass Menschen Welten erfinden können, wie Harari (2017) beobachtet, muss nicht zwangsläufig erfolgreich sein: Diese Erfindungen können sehr hilfreich sein, aber sie müssen es nicht. Sie können auch an der Realität vorbeigehen und sie „verkehrt“ behandeln. In der Tiefenpsychologie wird dies bei Einzelpersonen diagnostiziert, wenn Menschen wahnhaften Gebilden anhängen oder aber wenn neurotische Muster ihre Handlungsspielräume einschränken. Die Erfahrung zeigt, dass auch Unternehmen die Welt „verkehrt sehen“ können: Berühmt sind z. B. die Fehleinschätzungen von Microsoft und Bill Gates, die 1981 davon ausgingen, dass 640k-Austattungen bei PCs genug für jeden sind oder von Kodak, wo die Entwicklung im Bereich der digitalen Fotografie falsch eingeschätzt wurde.

Die Chancen des Personas-Ansatzes bestehen somit darin, dass er die Unternehmensenergien in einer Gestaltung bündelt und ausrichtet. Die Grenzen des Ansatzes liegen wiederum darin, dass diese Gestaltung „verkehrt“ und am Markt vorbei entwickelt wird.

6 Fallstricke im Umgang mit Personas

Die in der Praxis beobachtbaren Fallstricke bei der Personas-Entwicklung entstehen vor allem dadurch, dass die unternehmensinternen Verhältnisse wichtiger genommen werden als die Marktrealitäten.

In der Praxis werden Personas oft in Workshops erarbeitet. Die Stringenz und Ernsthaftigkeit, mit der dabei das vorliegende Erfahrungswissen aufgegriffen wird, ist entscheidend für die Qualität der Personas. Oft wird sich jedoch nicht richtig auf die Workshop-Teilnahme vorbereitet. Und Workshop-Teilnehmer neigen dazu, die Personas-Entwicklung mehr als eine spielerische Übung zu sehen. Die Fiktionalität der Personas wird dann schnell als Freibrief dafür betrachtet, packende Darstellungen für das interne Publikum zu entwickeln. Dies ist fatal, wenn sich später wichtige, externe strategische Maßnahmen des Unternehmens daran ausrichten.

Mangelnde Ernsthaftigkeit: In der Praxis werden Personas oft in Workshops erarbeitet. Die Stringenz und Ernsthaftigkeit, mit der dabei das vorliegende Erfahrungswissen aufgegriffen wird, ist entscheidend für die Qualität der Personas. Oft wird sich jedoch nicht richtig auf die Workshop-Teilnahme vorbereitet. Und Workshop-Teilnehmer neigen dazu, die Personas-Entwicklung mehr als eine spielerische Übung zu sehen. Die Fiktionalität der Personas wird dann schnell als Freibrief dafür betrachtet, packende Darstellungen für das interne Publikum zu entwickeln. Dies ist fatal, wenn sich später wichtige, externe strategische Maßnahmen des Unternehmens daran ausrichten.

Konsens statt Marktausrichtung: Personas dienen dazu, die Meinungsvarianz im Unternehmen zu reduzieren und die Unternehmensaktivitäten fokussierter zu gestalten. Um dies zu erreichen, wird jedoch oft nur ein gefälliger unternehmensinterner Konsens angestrebt. Damit wird die interne Unternehmensrealität behandelt aber nicht unbedingt der Markt.

Autoritätshörigkeit: In jedem Unternehmen besteht eine Tendenz, sich an den Auffassungen der Führung zu orientieren. Im Zweifel ist dies auch einfacher und für die Karriere förderlicher – aber eben nicht unbedingt für die Entwicklung von gut gestalteten Personas.

Wunsch-Personas: Wenn Unternehmensvertreter auf ihre Kunden zum Beispiel in einer Marktforschung treffen, sind sie nicht selten enttäuscht. Sie haben sich oft eine attraktivere, eloquentere, kreativere Klientel als Kundschaft vorgestellt. Bei der Personas-Entwicklung besteht daher die Tendenz, sich die Nutzer schönzureden.

7 Empfehlungen: Verfassungen statt Personas

Der aktuelle Höhenflug der Personas zeigt an, dass Forschungsbefunde, die komplexe Marktrealitäten abbilden, alleine nicht ausreichen, um in der Unternehmensrealität angenommen zu werden. Die Ergebnisse brauchen eine anfassbare Plakativität wie sie die Personas-Profile bieten.

Individuelle Profile wie – die Personas-Darstellungen – sind jedoch in der Markt- und Medienforschung eigentlich ein konzeptioneller und methodologischer Rückschritt. Die Nutzung von Produkten, Marken, Werbemedien ist oft stärker von Verfassungen, Mind- oder Mood-States geprägt als von individuellen Dispositionen. Auch solche Verfassungen lassen sich aber prägnant darstellen und benennen. Sie brechen jedoch mit den herkömmlichen personenbezogenen Sichtweisen und zwingen stärker dazu, auf die Nutzungs- und Marktrealitäten zu achten. Schokolade kann z. B. in einer aktiven Outdoor-Verfassung oder in Home in zartschmelzender Form beim narzisstischen Rückzug mit der Liebsten konsumiert werden. Diese beiden Schokoladen-Verfassungen werden von Schokoladenmarken in unterschiedlicher Weise bedient. Die meisten Konsumenten haben Spaß an beiden Verfassungen und wollen nicht nur eine davon erleben. Individualisierte Personas, wie die oben genannten Leni, Harald und Sara, helfen hier nicht weiter, weil die Nutzungsrealität sich nicht auf der Individualebene differenziert, sondern in den Verwendungskontexten.

Ein methodologischer Zwang auf Verfassungen, Mood und Mind States zu achten, kann daher ein Korrektiv dafür sein, die gefährliche Priorisierung von Unternehmensinterna im Personas-Konzept gegenüber den Marktrealitäten zu verringern. „Finden heißt erfinden“, hat einmal der Begründer der Morphologischen Psychologie Wilhelm Salber in einer kleinen Runde formuliert. Ihm war es aber zugleich immer wichtig, dass die Befunde methodisch im Austausch mit der Realität bleiben, überprüft und korrigiert werden können.

Management Takeaway

Personas oder die erfundenen Zielgruppen. Können komplexe Marktrealitäten strategisch besser mit prägnanten, aber fiktiven Personas gemanagt werden? Grundsätzlich ja, aber das Personas-Konzept tendiert dazu, Unternehmen von Ihren Marktrealitäten wegzubewegen. Ihr methodischer Ansatz sollte daher immer einen Realitätscheck beinhalten. Moderne Ansätze wie Verfassungen, Mind- oder Mood-States schaffen ebenfalls prägnante Profile für das Management. Sie können das Zusammenspiel von Fiktion und Realitätsanforderungen jedoch besser bedienen als der Rückgriff auf Personas-“Charaktere”.

Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift transfer 1/2020.

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