Ines Imdahl hat für die Jubiläumsausgabe von planung&analyse zum 50sten Erscheinungsjahr ein psychologisches Plädoyer für das Menschliche in Zeiten zunehmender Automatisierung und KI und die damit verbundene Aktualität der qualitativen Marktforschung geschrieben. Lesen Sie hier den Beitrag im Original. Zum Heft und E-Paper gelangen Sie hier.
Sprechen, Zuhören, Sinn und Zusammenhang finden.
Warum qualitative Marktforschung im Zeitalter von KI wichtig ist.
Hat die qualitative Forschung eine Zukunft? Wissen Google, ChatGPT und KI denn nicht schon alles?
Genau das wurde ich kürzlich auf einer Veranstaltung vom Manager einer Band gefragt. „Sie befragen Kunden noch direkt? Ist das nicht völlig old school?“
Dem Manager stehen – wie anderen Unternehmen auch – viele Daten zur Verfügung. Er weiß genau, wie viele Menschen, welche Songs seiner Band kaufen, wie viele gestreamt werden oder wie viele das ‚Produkt‘ live sehen.
Er kann aber in den großen Datenmengen keinen sinnvollen Zusammenhang erkennen. Und vor allem: Er kann keine Ableitungen oder gute Prognosen entwickeln, die seine Entscheidungen für zukünftige Tätigkeiten zielsicherer machen. Und hier räumte er ein, wäre es gut, die Menschen direkt zu befragen. „Wann magst Du die Band lieber live sehen? Warum ist das so? Wieso streamst Du den ganzen Tag einen einzigen Song? Und warum kaufst Du dieses, aber jenes Album eben nicht?“ Einfache Antworten nach „Gefallen“ bestimmter Songs, ergeben keine schlüssigen Erklärungen für die Verkäufe, Konzertbesuche oder Streamings.
Faktisch werden Kundinnen und Kunden allerdings immer weniger direkt oder gar ausführlich befragt. Auch marktforschungsaffine Unternehmen, etwa aus dem FMCG-Bereich, haben ihre Etats in den letzten Jahren mehr als einmal drastisch gekürzt. Das hat auf den ersten Blick „logische“ Gründe:
1. Unternehmen ist heute ein direkter Zugang zu ihren Zielgruppen möglich, der früher der Marktforschung vorbehalten war. Über Social Media und DIY-Plattformen können sie ohne Umwege mit den Menschen in Kontakt treten und Feedback einholen.
2. Digitalisierung, Automatisierung, Deep Learning und KI machen die Marktforschung schneller und günstiger. Schon für kleines Geld viele Menschen befragen und innerhalb von wenigen Stunden Antworten erhalten? Das ist möglich.
Der Umweg über das wohlmöglich lange und persönliche (Tiefen-) Interview scheint überflüssig, kompliziert und aus der Zeit gefallen. Zumal sich im Bereich der qualitativen Forschung im letzten Jahrzehnt im Grunde fast nichts verändert hat. Immer noch offene Fragen und persönliche Gespräche, im besten Fall Auswertung und Interpretation gemäß einer Theorie. Neue Theorien sind kaum auszumachen. Kognitive, semiotische, psychologische und selbst eine der jüngsten, die morphologische Psychologie, sind nun wirklich nicht mehr taufrisch. Demgegenüber stehen die disruptive Technologie-Entwicklung der quantitativen Forschung. Von Pencil-Paper Befragungen über CATI hinzu mobilen, online und automatisierten Befragungen, Big Data Analytics, KI und Deep-Learning zeigt sich ein sich selbst befeuernder Wandel, mit dem alle Schritt zu halten versuchen.
Macht dies die qualitative Forschung nicht tatsächlich überflüssig?
Kundendaten sammeln alleine genügt nicht. Sie müssen sinnvoll eingeordnet werden.
Mehr Daten und direkterer Zugang zu den Menschen sollten schließlich eine größere Kundennähe schaffen. Die jüngsten Entwicklungen zeigen: Zwar glauben immer mehr Unternehmensentscheider die Bedarfe ihre Kundinnen zu kennen, aber immer weniger Kunden sehen das genauso. (Quelle Harvard Business Manager August 2023)
Aus psychologischer Sicht lassen sich verschiedene (paradoxe) Entwicklungen beobachten, die nicht nur den Mehrwert, sondern gar die Notwendigkeit des Gespräche-Führens und Zuhörens und des Herausarbeitens von Sinn und Zusammenhang, wie es in der qualitativen Forschung üblich ist, unterstreichen. Blicken wir einmal ein wenig tiefer in die Glaskugel zur Zukunft der qualitativen Forschung.
Erstes Paradox: Weil „Alles“ offensichtlich ist, findet das „Eigentliche“ immer weniger Gehör.
In einer Zeit von Datenfülle und neuen unkomplizierten Möglichkeiten, die Verbraucherinnen und Verbraucher zu erreichen, wenden sich Unternehmen immer seltener direkt an die Menschen. Sie glauben ihre Zielgruppen und Kunden zu kennen, weil Daten massenhaft zur Verfügung stehen und es scheinbar „offensichtlich“ ist, was Menschen bewegt. Dieses Augenscheinliche wird immer seltener hinterfragt. Die schiere Menge und die bloße Möglichkeit des Zugriffs, schaffen ein Gefühl der Sicherheit und Kontrolle. Es ist ja „Alles“ da.
Dieses „Alles“ wird durch weitreichende Automatisierungsprozesse und die zunehmende Nutzung von KI-Tools gescannt und sortiert. Bestenfalls auch systematisch und regelmäßig ausgewertet. Idealerweise wird ein System entwickelt, das selbständig und unabhängig von weiterer – menschlicher – Einflussnahme funktioniert. Die Faszination, die diese Technologien ausstrahlen, ist beinahe überall zu spüren. Leuchtende Augen, flammende Reden, wenn es um die grenzenlose Welt der Digitalisierung und KI geht – sie kann nicht nur das „Alles“ auswerten, erleichtern und beschleunigen. Sie scheint gleichzeitig von der lästigen Auseinandersetzung mit dem Störfaktor Mensch zu entlasten, der in seinem Verhalten und Erleben, seinen zum Teil unsinnig und wechselhaft anmutenden Wünschen, seinem komplexen Seelenleben sich keineswegs so geschmeidig in die Unternehmenspläne einfügt. Es ist wie eine insgeheime Wunscherfüllung: Über die perfektionierten Prozesse können die Bedarfe der Menschen gleichzeitig passgenau bedient und – zumindest im Unternehmens-Alltag – ignoriert werden.
Kunden wollen gehört & verstanden werden. KI kann dies nicht leisten.
Bedient im Sinne von entnervt, fühlen sich auch viele Kundinnen und Kunden. Es wird immer schwieriger, sich direkt an Unternehmen zu wenden oder mit wichtigen Anliegen außerhalb der Standardisierung durchzudringen. War die Kundenbetreuung jüngst noch an Call-Center ausgelagert, sind nun vermehrt Bots vorgeschaltet. Immer häufiger hängen Kundinnen nicht nur in Warteschleifen, sondern Feedback-Loops fest. Statt mit direktem Ansprechpartner diskutieren sie mit der KI oder verzweifeln an standardisierten Antwortmöglichkeiten.
Das gilt auch zunehmend für die Art, wie die Menschen in der Forschung befragt werden. Falls sie befragt werden. Am grünen Tisch werden Fragen überlegt, die oft an den Bedarfen der Menschen vorbei gehen. Überprüft, ob die befragten Themen, die sind, die die Menschen „eigentlich“ bewegen, ob ein Produkt oder ein Service eine echte Lösung oder einen Mehrwert im Alltag der Menschen darstellt, wird kaum noch. Es geht direkt in den Vergleich: Was ist besser, was ist schlechter: A oder B? Wie in den bekannten ‚Persönlichkeits-Tests‘ aus Zeitschriften passt eigentlich keine der Antwortmöglichkeiten: Gewählt wird, was vielleicht am wenigsten unpassend ist. Wohl fühlt man sich damit aber nicht. Noch ‚smarter‘ wird Forschung ganz ohne Menschen, in der die KI Personas und Teilnehmende simuliert. Hier kann der ‚Störfaktor‘ Mensch gänzlich eliminiert werden und auf die Befindlichkeiten oder Verfügbarkeiten muss auch niemand mehr Rücksicht nehmen.
So findet das „Eigentliche“ in den riesigen Datenmengen kaum mehr Gehör. Aber es lässt sich auf Dauer nicht heraushalten, sucht sich seinen Raum. Immer mehr Menschen beschäftigen sich – auch auf Social Media – mit psychologischen Coaches, mit Empathie, Emotionalität und positivem Mind-Set. Sie wollen selbst Psychologie studieren (kaum ein anderes Studienfach ist so gefragt), wollen ihren Träumen, Wünschen und Befindlichkeiten auf den Grund gehen. Intensiv. Ein riesiger Trend. Da, wo sie sich besonders „überhört“ fühlen, gehen sie noch weiter: auf die Strasse oder in die Radikalität. Oft als letzter Ausweg, um sich Gehör zu verschaffen. (Quelle „Medien zwischen Achtung und Ächtung“, rheingold salon im Auftrag der Stiftervereinigung Presse, des BDZV, der Stiftung Presse-Haus NRZ). Auch für die Unternehmensführung ist das Thema Empathie ein wichtiges Führungsskill geworden, mit dem sich gern geschmückt wird. Nur in der Kunden- und Zielgruppenbefragung geht es vor allem technologisiert und ‚befreit‘ vom Menschlichen zu. Das „Eigentliche“ bleibt hier oft außen vor.
Unternehmen können zuhören & verstehen. Dabei unterstützt die qualitative Marktforschung.
Das ist umso problematischer, da Menschen aktuell viel Hoffnung in die Unternehmen setzen. Genau genommen sind sie die letzten verbleibenden Hoffnungsträger für die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen. Die Politik hat hier ausgedient. Zumindest in der westlichen Welt schaffen weder Politik noch Religion es, für klare Leitlinien und Orientierungen zu sorgen. Um das in sie gesetzte Zutrauen nicht zu verlieren, sollten Unternehmen nicht nur die Optimierungen ihrer Abläufe im Blick haben – und den Kunden dabei lediglich als „Geldmittel“ sehen . Sie müssen ihm mindestens einen weiteren Sinn schenken und ihr Gehör leihen. In Form von qualitativen Befragungen.
Unsere Erfahrung zeigt: Wenn der Erfolg trotz optimal digitalisierter Prozesse und Feedbackschleifen ausbleibt oder schwindet und sich zeigt, dass Mensch und Maschine durchaus verschieden funktionieren, öffnet oftmals die Tür für die qualitative Forschung.
Direkte Gespräche und tiefenpsychologische Befragungen führen zu Aha-Momenten, die zeigen, wo die waren Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden liegen und wann sie neben der KI auch mal einen echten Menschen brauchen. Unternehmen, die ihren Kunden regelmäßig Gehör schenken, haben einen echten Vorteil, auch bei der Nutzung der KI und Digitalisierung. Denn diese kann nur so menschlich sein, wie die Menschen, die sie füttern und immer wieder nachjustieren. Und auch wenn es noch so verlockend ist: um die Auseinandersetzung mit dem Menschlichen kommen die Unternehmen nicht herum. Es mag mühselig sein, nicht allen Äußerungen direkt Glauben zu schenken, und immer wieder nachfassen zu müssen. Für ein besseres Verständnis des Menschlichen, Seelischen und oftmals scheinbar Unsinnigen gibt es jedoch nur einen Weg: mit Menschen reden, um sie zu verstehen. Direkt und persönlich.
Zweites Paradox: Der Wunsch nach umfassender Berechenbarkeit fordert einen festen Glauben an das „Unbekannte“ und fördert das Revival der Blackbox.
Verstehen ermöglichen. Qualitative Marktforschung & die Frage nach dem Warum.
Das umfassende Vermessungs- und Berechnungsversprechen durch KI und Digitalisierung hat seinen Preis. Er geht mit dem festen Glauben an eine Unbekannte einher. Denn die KI und Deep Learning sind ab einem bestimmten Punkt nicht nur intransparent, sondern vom Menschen wirklich nicht mehr nachvollziehbar. (Quelle: „Die KI wars“ Katharina Zweig). Verzichtet wird auf das Verstehen und das „Warum“. Beides bleibt außen vor bzw. innen drin: in der Blackbox. Sie ist das Ungewisse, das Unwägbare, mit dem gelebt werden muss.
Immer häufiger begegnet auch der qualitativen Forschung ein Desinteresse am tieferen Verstehen. Ein Pharmaunternehmen kann mit einer Werbung auf Social Media sein Skandal-gebeuteltes Image messbar aufpolieren? Das reicht. Warum das so ist, ist nicht von Interesse. Die Werbung wirkt. Zumindest in die vermeintlich richtige Richtung. Damit kann man sich sehen lassen, beim Chef, beim Stakeholder, beim Investor.
Den allermeisten ist das „Warum“ oder „Wie“ der künstlichen Entscheidungsprozesse auch für ihren persönlichen Alltag egal. Müsste ein Arzt, eine Ärztin oder eine KI entscheiden, wer bei einer Transplantation den Vorzug erhält, wünschen sich die viele sogar die Entscheidung durch die KI. Im blinden Vertrauen, dass diese das neutraler entscheidet.
Warum die KI wie entscheidet ist aber nur so lange egal, bis man persönlich eine Entscheidung nicht mehr als gerechtfertigt empfindet: „Warum bekomme ich den Kredit oder die Wohnung nicht? Wieso wurde mein Social Media Account gesperrt?“ Was manchmal noch abstrakt klingt, kann eventuell an der Schufa-Auskunft nachvollzogen werden. Die Schufa Bewertung wird oft als undurchsichtig und ungerecht empfunden. Ordnen Maschinen uns in bestimmte Schubladen ein, kann das unser Leben stark beeinflussen. Das blinde Vertrauen in die Richtigkeit der Entscheidungen von Algorithmus und KI, wirft uns in das Zeitalter der Schicksalsgläubigkeit zurück.
Auch die Unternehmen. Erst wenn die Anzeige, die doch angeblich das Image verbessert hat, den Shitstorm nicht verhindert, wird vielleicht an dem Urteil des neuen ‚Gottes‘ gezweifelt und genauer hingeschaut. Aus der Not wird das Opfer der persönlichen Befragung gebracht.
Zusammenhänge verstehen & Sinn finden. Qualitative Marktforschung in Zeiten des Umbruchs.
Qualitative Forschung richtig verstanden, ist keine lästige Notlösung, wenn man nicht mehr weiter weiß. Wollen wir Herr über die Geister, die wir riefen, sein, so ist das Warum und das Verstehen des menschlichen Verhaltens und Erlebens der Schlüssel. Wir treten damit einer schicksalhaften Ergebenheit in neuer gottähnlicher Willkürstrukturen entgegen. Solange wir Sinn hinterfragen und Zusammenhänge aufdecken, halten wir KI und die Blackbox nicht nur in Schach, sondern nutzen sie im Sinne der Menschlichkeit. Und dies ist der einzige Sinn, den sie haben sollte.
Qualitative Forschung hilft das „Eigentliche“ im Blick zu behalten und ihm Gehör zu verschaffen. Sie offeriert Verstehen, wo wir uns nicht einfach mit Gegebenheiten und Entscheidungen abfinden wollen oder dürfen. Sie schafft Zusammenhänge und Sinn, den die Menschen aktuell dringender suchen als jemals zuvor. Und sie liefert mit ihren verlässlichen, bewährten Methoden ein Anker der Stabilität und Sicherheit in Zeiten der Unwägbarkeiten und des Ungewissen. Denn sie weiß mit dem Menschlichen umzugehen, es einzuschätzen und sinnvoll zu deuten. Weil sie darin unglaublich viel Übung hat.Und last, but not least: Qualitative und quantitative Forschung sind nicht nur keine Gegensätze, sondern bedingen einander, um den Sinn der Forschung in Zukunft relevant zu halten. Technologische Entwicklungen brauchen die sinnvolle Einordnung mehr denn je.
80 Prozent der Führungskräfte von Unternehmen glauben, die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kund:innen zu kennen – doch nur 8 Prozent der Kund:innen sehen das auch so. Gehören Sie nicht länger zu denjenigen, die Ihre Kund:innen nur glauben zu verstehen. Lernen Sie in diesem LinkedIn Learning-Audiokurs, wie Sie die Werkzeuge der Marktforschung nutzen, um Ihre Geschäftsstrategien auf das nächste Level zu heben. Ines Imdahl rüstet Sie mit dem Wissen und den Fertigkeiten aus, um die wahren Beweggründe und Meinungen Ihrer Kund:innen zu erkennen. Nicht immer sind diese so vernünftig oder offenkundig, wie es auf den ersten Blick scheint. Sammeln Sie daher nicht länger nur Daten, sondern lernen Sie, tiefe Einblicke zu gewinnen. Sie sind bereit, mit Ines Imdahl die geheime Logik des Marktes zu entschlüsseln? Dann nehmen Sie sich ein wenig Zeit und begleiten Sie Ines in die faszinierende Welt der Marktforschung.
Der Kurs ist eigentlich nur für Premium-Kunden – aber Sie können von uns einen kostenlosen Link erhalten: einfach Ines Imdahl auf LinkedIn anschreiben und nach dem kostenlosen Link fragen (das geht nur über die Platform direkt).
Hier geht es zum LinkedIn– Profil von Ines Imdahl.
Warum Marken auch morgen noch wichtig sind und warum sie dafür Forschung brauchen.
Während Medien und Politik polarisieren, können Marken die Gesellschaft vereinen. In der 1. Ausgabe 2024 von „planung & analyse“ mit dem Schwerpunkt „Brands“ schreibt Jens Lönneker über die integrative Bedeutung von Marken in einer Gesellschaft, deren kollektives Selbstverständnis erschüttert ist. Hier finden Sie seinen Beitrag „Das Verbindende“ im Wortlaut. Alternativ im E-Zine.
In Markenmodellen steht überwiegend die differenzierende Kraft von Marken im Vordergrund. Angesichts einer zunehmend polarisierten Welt, nimmt Jens Lönneker die verbindende Seite von Marken in den Fokus. Forschung und Marketing sollten diese verbindenden Momente in ihrem Potenzial erkennen und benennen.
Marken sollen, wie der Name schon sagt, markieren.
Um das zu können, müssen sie sich von ihrem Umfeld abheben und einen Unterschied machen. Bei der Entwicklung von Strategien für Marken wird daher meist Wert auf das differenzierende Potenzial von Marken gelegt. In den meisten Markenmodellen stehen Aspekte wie Einzigartigkeit, Grad der Substituierbarkeit, der USP im Fokus. Die Erforschung von Insights und die Auslobung von Benefits sollen diese Differenzierung ermöglichen. Hier soll der Versuch unternommen werden, die Bedeutung von Marken anders zu verstehen.
Ins Zentrum der Betrachtung soll dafür ihre verbindende Seite gerückt werden – eine meist wenig beachtete Dimension.
Sie wird zwar unter Aspekten des Markenstatus mit Parametern wie Bekanntheit, Haushalts-Penetration oder Käufer-Reichweite irgendwie erfasst, aber meist nicht als eigene Qualität verstanden. Die Hypothese: Marken mussten die verbindende Qualität bislang nicht in den Vordergrund stellen, weil in den westlichen Gesellschaften über Jahrzehnte eine verbindende gemeinschaftliche gesellschaftliche Plattform existierte. Es bestand ein grundsätzlicher gesellschaftlicher Konsens, der zwar immer wieder kontrovers diskutiert, aber nicht infrage gestellt wurde.
Diese Gewissheit ist heute jedoch nicht mehr ohne weiteres gegeben. Die geballte Wucht großer Herausforderungen wie Klimawandel, Migration, Inflation, Pandemien, Krieg in Europa erzeugten einen Nährboden sowohl für nationalistische, populistische Vorstellungen wie auch für neue Konfliktarenen im klassischen demokratischen Lager: Was soll reguliert und verboten werden, wer gehört dazu? Der gesellschaftliche Konsens ist somit brüchiger geworden, Gemeinsamkeiten sind weniger selbstverständlich.
Die Suche nach vereinenden gesellschaftlichen Kräften
Politik und Medien werden einende und verbindende Qualitäten immer mehr abgesprochen. Zu diesem Phänomen gibt es verschiedene Studien: Das Edelman Trust Barometer, für das 2022 weltweit 32.000 Menschen befragt wurden, hat nach trennenden und vereinenden gesellschaftlichen Kräften gefragt und für seinen Deutschland-Report ausgewiesen. Danach werden Regierung und Medien hierzulande mehr trennende als vereinende Kräfte zugeschrieben – für die Geschäftswelt und die NGOs ist es umgekehrt.
Gerade die Marken scheinen in diesem Kontext zu punkten:
Im Vertrauensranking von ServiceValue erzielten die Top-Marken 2021 hohe Vertrauenswerte von 85 Prozent an aufwärts. Berücksichtigt wurden dabei über eine halbe Million Kundenurteile für circa 1.800 Unternehmen. Medien und Politik haben dagegen mit Vertrauenskrisen zu kämpfen. Dies zeigt unsere Studie „Medien zwischen Achtung und Ächtung“. Jeder Vierte entwickelt demnach in Deutschland eine ausgesprochen kritische Haltung gegenüber den etablierten Medien. Davon fühlen sich die meisten von System und Politik allein gelassen. Im Osten Deutschlands ist die Medienaversion besonders groß und umfasst dort bis zu 40 Prozent der Bevölkerung. Das ist sehr beunruhigend.
Denn eine funktionierende Demokratie setzt nach Ansicht wichtiger Medienforscher wie Jürgen Habermas eine breite Akzeptanz der großen Massenmedien voraus. Auch die Glaubwürdigkeit der Politik ist seit Jahren schwach ausgeprägt. In einer Studie der Heinz Lohmann Stiftung „Öffentliche Meinung in der Krise – eine tiefenpsychologische Studie“ von 2015 erhielten Politiker im Vergleich mit anderen Gruppen beim Stichwort „Glaubwürdigkeit“ die schlechteste Beurteilung. Dagegen erhielten Kategorien wie „Experten“, „Betroffene“, „NGOs“, „Wissenschaftler aus Institutionen“ hohe Scores(70+).
Hatten sich die Werte für die Politik rund um die Coronakrise anfänglich klar verbessert, so ermittelt eine Ende 2023 durchgeführte Forsa-Umfrage wieder dramatisch gesunkene Werte: Nur noch 20 Prozent der Befragten haben großes Vertrauen in den Bundeskanzler und nur 21 Prozent in die Bundesregierung nach Werten von +60 Prozent im Jahr 2020.
Marken können verbindende Qualitäten entwickeln
Vor diesem Hintergrund werden Felder sehr wichtig, die verbindende gesellschaftliche Qualitäten schaffen. Marken haben –schon lange – solche Qualitäten. Natürlich ist die Wirklichkeit komplexer.
Medien können ebenfalls Marken sein, haben aber nicht dieselben Aufgaben wie Marken und Unternehmen aus anderen Bereichen. Dennoch bleibt die Frage im Raum, warum den Top-Marken und Unternehmen aus allen möglichen Bereichen offenbar mehr Vertrauen entgegengebracht wird als den Medien. Es macht daher Sinn, sich näher mit den verbindenden Qualitäten von Marken zu beschäftigen.
Verschiedene Agenturen und Institute haben Ansätze entwickelt, um die Stärke von Marken zu ermitteln: BrandZ von Kantar versucht, den Anteil der Marke am finanziellen Erfolg eines Unternehmens zu berechnen. Interbrand weist die Best Global Brands aus. Die GfK zieht mit ihren Partnern wie dem Markenverband bei der Ermittlung der Best Brands den wirtschaftlichen Markterfolg und die Attraktivität der Marke aus Sicht der Verbraucher heran. Die ermittelten Top-Marken für Deutschland müssen zwangsläufig ein breites Publikum erfolgreich ansprechen –sonst wären sie nicht auf den vorderen Plätzen.
Welche Hypothesen lassen sich aber aus den Rankings für die verbindenden gesellschaftlichen Qualitäten von Marken ableiten?
Der BrandZ-Monitor von 2023 weist für Deutschland zwei Technologiemarken auf den beiden ersten Plätzen aus: Telekom und SAP. „Erleben, was verbindet“, heißt es seit Jahren explizit im Claim der Telekom. Und im Business setzt SAP hierzulande die Standards des Miteinanders in der kaufmännischen Organisation. Man kann den Erfolg der beiden Marken damit auch so auslegen, dass sie starke, verbindende Qualitäten entwickeln. International können auch Marken wie Apple, Google oder Microsoft solche Eigenschaften zugeordnet werden. Last, but not least ließe sich auch der Erfolg der Marke DHL hier psychologisch einsortieren.
Forschung braucht Raum, um Mehrwert zu schaffen
Marken müssen aber offenbar nicht unbedingt direkt das Verbindende in den Vordergrund stellen, um damit zu punkten. Auch wenn viele Menschen sich darin einig sind, dass sie etwas für begehrenswert halten, kann sich Gemeinschaft ausbilden: DieMarken Mercedes-Benz und BMW finden sich
bei BrandZ in Deutschland auf den Plätzen drei und vier. Auch andere gediegene Automobilmarken sind in Deutschland auf TopPlätzen unterwegs. International ist dagegen nur Tesla in denTop 50–ein Hinweis darauf, dass andere Produkte begehrlicher werden? Dafür spricht, dass die Luxusmarkenanbieter Louis Vuitton und Hermès im Ranking deutlich nach oben geklettert sind. Mit Siemens und Bosch sind zudem zwei Marken in der deutschen Top-Ten von BrandZ, die für verlässliche Produkte in der technologischen Infrastruktur stehen. Ihre Angebote umfassen sowohl die Anwendung in Wirtschaftsunternehmen wie im privaten häuslichen Raum. Bosch wurde auch bei den Best Brands gekürt. Im Wunsch nach Garanten für eine verlässliche technologische Infrastruktur scheinen demnach viele Menschen Gemeinsamkeiten zu spüren. Die Marken Aldi und Lidl punkten seit Jahren damit, dass praktisch das ganze Volk bei diesen Discountern einkauft. Die Philosophie des „Weniger ist mehr“ wird hier konsequent umgesetzt. Und das Interesse an günstigen Preisen eint die Deutschen, führt zu fantastischen Käuferreichweiten.
Auch die topbewerteten Marken Adidas und Nivea sind allgegenwärtig im gesellschaftlichen Alltag. Sie verkörpern Produkte, die breit akzeptiert sind. Produkte, mit denen man nichts falsch machen kann und dadurch gesellschaftliche Gemeinsamkeit im Alltagsgeschehen herstellen.
Gesellschaft wird zunehmend polarisiert
Das Verbindende von Marken ist angesichts sich verändernder polarisierender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ein Asset, das an Bedeutung gewinnt. Die Marktforschung kann solche neuen Perspektiven beisteuern, indem sie einen kreativen Blick auf die Daten wirft und so etwas „sieht“. Mit ihren Daten und Erkenntnissen „challenged“ sie die Markenführung, so dass diese am Mehrwert der Marken
arbeiten kann. Alle Daten, die in diesem Artikel verwendet worden sind, sind öffentlich zugänglich. Es besteht ein riesiger Pool an Forschungserkenntnissen, der von markenführenden Unternehmen – zunehmend auch KI-gestützt–genutzt werden kann.
Allerdings braucht auch die Forschung ihren Raum, um diesen Mehrwert für Marken zu entfalten. Wird sie zum reinen Supplier, der Daten so günstig wie möglich liefern – aber nicht weiter über sie nachdenken soll, wird das Potenzial für die Markenentwicklung verschenkt. Hermann Hesse sagte: „Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben.“ Demnach sollte man die Forschung mehr „finden“ und nicht nur „suchen“ lassen. Denn ein Sucher sieht manches nicht, was nahe vor ihm steht – wie etwa die berühmte Brille auf der Nase.
Forschung braucht Räume, um für Marken zu „sehen“
Auch Forschung braucht Raum, um Mehrwert für Marken zu entfalten. Wird sie zum reinen Supplier, der Daten so günstig wie möglich liefern – aber nicht weiter über sie nachdenken soll, wird das Potenzial für die Markenentwicklung verschenkt.
Tiefenpsychologie bietet mehr als Algorithmen und Scores. Sie ist ein Anwalt der reichen Realität!
Die Tiefenpsychologie kommt aus der therapeutischen und forscherischen Praxis. Diese Praxis-Erfahrungen zeigen, dass psychische Phänomene hoch verdichtet sind – im Fachjargon: „überdeterminiert“. Tiefenpsychologen picken sich daher nicht einzelne Verhaltensaspekte wie etwa „Preisakzeptanz“ oder „Einstellungen“ isoliert heraus sondern machen sich die Mühe, die psychischen Phänomene in ihrer Ganzheitlichkeit und Komplexität zu beschreiben und zu erfassen. Sie finden daher auch Wirkungsdimensionen, die sonst „übersehen“ werden, weil sie nicht bewusst sind oder nicht in rationale Denkmuster passen. Tiefenpsychologen machen das Zusammenspiel der Wirkungen als eigene Wirkgröße und „dritte“ Kraft heraus. Die Ergebnisse bekommen dadurch eine besondere Tiefe und Relevanz.
Tiefenpsychologie kann etwas, was Mainstream-Wissenschaft nicht kann.
Diese Vielschichtigkeit macht Tiefenpsychologie so „inspirierend“. Selbst ihre größten Kritiker – ob Behavioral Scientists oder der berühmte Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper – haben ihr diese Qualität attestiert. Tiefenpsychologische Erklärungen werden im Vergleich mit anderen Vorgehensweisen oft als reichhaltiger und komplexer erlebt. Sie liefern „tatsächliche“, komplexere Erklärungen und nicht allein Befunde für fokussierte Teilbereiche oder Ausschnitte. Dieses Können schafft Neid bei nicht wenigen Nicht-Tiefenpsychologen, die sich im Vergleich mit ihren Erklärungen oft als „trockener“ und „begrenzter“ erleben.
Denn die akademische Forschung hat eine andere Ausrichtung: Sie steht überwiegend in einer Tradition der Aufklärung mit der Suche nach einer Vernunft und Logik in den Phänomenen, die das „Irrationale“ gerade überwinden möchte. Die akademische Psychologie hat daher immer eine Neigung, tiefenpsychologische Erklärungen für menschliches Verhalten abzulehnen. Die universitären Auffassungen sind dabei allerdings oft widersprüchlich: Während die Neurowissenschaftler heute überwiegend die Auffassung von unbewussten Einflussgrößen auf menschliches Verhalten teilen, stellen Behavioral Scientists diese wiederum in Frage. Als „Ziemlich bester Feind“ der akademischen Psychologie fordert die Tiefenpsychologie die etablierte universitäre Wissenschaft so immer wieder heraus – und umgekehrt.
Den Artikel zum Thema „Kann Tiefenpsychologie Verhalten erklären oder inspiriert sie nur“ von Jens Lönneker, finden Sie hier.