Warum die Jugend als Corona-Sündenbock herhalten muss

von Ines Imdahl

Sündenbock

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Warum die Jugend als Corona-Sündenbock herhalten muss

von Ines Imdahl

Deutschland sucht sich gern einen Sündenbock. Leider und immer noch. Glücklicherweise sind sich viele Deutsche dessen bewusst und glauben eher nicht, dass sich bestimmte Religionszugehörigkeit oder Nationalitäten  per se dazu eignen, an etwas Schuld zu sein.

Viele Klischees und Vorurteile tragen wir dennoch mit uns herum. Ohne es zu bemerken und vielleicht auch ohne es zu wollen. Denn unbewusst stellen wir in unserem Alltag nicht selten bestimmte Gruppierungen unter „Generalverdacht“.  Ohne, dass wir es uns klar machen, haben wir fast alle bei dem ein oder anderen Thema einen Schuldigen im Hinterkopf. Einen „heimlichen“ oder zumindest privaten Sündenbock.

Feiern, Trinken, Rüpeln

Das gilt auch für Corona. Natürlich, da gibt es die Verschwörungstheoretiker. Die sind hier jedoch nicht gemeint. Die wenigsten allerdings suchen bei der Verbreitung des Virus die Schuld bei sich selbst. Das merkt man schon daran, wenn man jemanden höflich darauf aufmerksam macht, die Maske zu tragen, richtig hochzuziehen oder etwas mehr Abstand an der Kasse zu wahren. Wir halten uns nicht für schuldig. Weil wir uns generell selbst erst mal nicht für ansteckend halten. Ansteckend, das sind die anderen. Die Jugendlichen zum Beispiel. Die besonders. Sie feiern, trinken, sind rüpelig (Verzeihung für diese ganz und gar nicht der Jugendsprache entsprechenden Formulierung!), folgen ihren Gelüsten und haben sich vor allen Dingen überhaupt nicht im Griff.

Denken wir. Oder zumindest viele. Wenigstens manchmal. Eine neue Studie des Sozialforschers Hurrelmann zeigt jetzt erneut, dass das nicht stimmt. Die Schülervertretungen hatten sich ohnehin schon monatelang gegen diesen Generalverdacht gewehrt. Sie haben wenig bewirkt. Zumindest nicht in den Köpfen der Menschen. Die neuesten Erkenntnisse  besagen nun, dass die jungen Menschen sich zum allergrößten Teil – nämlich rund 66 % – sehr genau an die Maßnahmen halten. Nur 4 % sagen bei Maskenpflicht und Abstand „Nein“. Das ist weniger als in der Gesamtbevölkerung – weniger als die, die immer noch glauben, dass es Corona nicht gebe oder das Virus nicht schlimmer als Grippe sei. (Tendenz der generellen Verschwörer ist übrigens steigend!). Aber auch diese neue Studie wird vermutlich nicht ausreichen, die Jugendlichen „von den Sünden“ rein zu waschen.

Jugendliche als Sündenbock

Obwohl weder in den Großstädten, noch in den Dörfern, noch an den Schulen oder durch private Feiern die Regeln durch die Jugendlichen in besonderer oder überdurchschnittlicher Weise gebrochen werden, möchte doch etwas in uns, dass hier die Wurzel des Übels liegt. Wenn schon nicht die Ursache, so dann doch der Grund für die Eindämmungsschwierigkeiten des Virus.

Warum ist das so? Hierfür gibt es psychologisch beschreibbare Gründe.  Zum einen: Schuld jemand anderem zuzuschieben, enthebt einen der Eigen-Verantwortung. Klar. Man kann wütend auf andere sein, sich gut in der Opferrolle einrichten und darin, dass man nichts falsch gemacht hat. Das Schicksal und die „bösen“ anderen haben Schuld.

Klassisch bedeutet dies jedoch eine „Verschiebung“: die gefühlten oder tatsächlich vorhandenen eigenen „Sünden“ werden einem anderen oder etwas anderem angelastet. Auf den Bock. Und der wurde im alten Jerusalem dann mit den Sünden in die Wüste geschickt. Die meisten haben vielleicht zumindest ein kleines schlechtes Gewissen: ein bisschen Corona-Fehlverhalten eventuell hier und da. In der Stadt, beim Einkaufen, mit der einen Freundin, die man doch getroffen hat? Das wäre schön, wenn da nichts passiert wäre. Wird schon nichts passiert sein. Denn Schuld an der Ausbreitung, das sind ja die anderen. Die Jugendlichen. Die Sündenböcke.

Warum aber jetzt ausgerechnet die Jugendlichen? Nun zum einen, weil wir nur noch selten Böcke in die Wüste schicken und von daher eine Alternative brauchen. Zum anderen, weil das Bild der Jugend in unserer Kultur immer noch von Koma-Saufen und Amok-Laufen geprägt ist. Vor unserem inneren Auge schießen Jugendliche ständig über das Ziel hinaus: in ihrer ungehobelten Ausdrucksweise, in ihrem unangemessenen Verhalten, in ihrer Nachtaktivität, in ihrem Alkohol- und möglicherweise Drogenkonsum, in ihrer Ego-Shooter-Spielsucht. Sie laufen ständig  latent Gefahr, das Gesetz zu brechen und in die Kriminalität abzurutschen. Warum  sonst betonen Eltern wohl ständig, dass sie stolz sind, wie gut sich ihr Kind macht? Richtig, weil die Sorge des Entgleitens, die heimlichen Ängste des Grenzenlosen mit schwingt. Das Wort Halbstarker ist bei vielen Älteren dabei schon ein Synonym für Kriminalisierung.

Angst vor dem Unkontrollierbaren

Unsere tiefenpsychologisch-repräsentativen Studien, die wir in den letzten Jahren mit dem IKW durchgeführt haben, liefern hingegen die Basis für die neusten oben genannten Erkenntnisse: Die Jugend von heute sehnt sich wie keine Generation zuvor nach Sicherheit und Kontrolle. Sie will ihr Leben, ihre Hormone, ihr Äußeres, ihr Gefühlsleben immer im Griff haben. Sie trinken und rauchen weniger als vorherige Generationen, sie haben lieber Freunde als „Dates“. Nicht schreckt sie mehr als das Unkontrollierbare (und die Liebe wäre ja auch unkontrollierbar). Anpassung ist die neue Rebellion.

Das gilt in diesem Sinne auch für Corona. Corona ist unheimlich und unberechenbar. Ein Alptraum für die Kontroll-Gen-Z. Die Jugend von heute ist nicht feierwütig. Sie ist auch nicht Schuld an der erneuten Ausbreitung, der nicht so recht gelingen wollenden Eindämmung – und auch nicht an unserer Corona-Wütigkeit. Eine Wut, die verständlich ist. Denn wir sind selbst hilflos und ausgeliefert und müssen irgendwohin mit unseren Gefühlen. Diese Wut und unser schlechtes Gefühl bei den Jugendlichen als Sündenbock abzuladen, ist allerdings nicht fair. Gehen wir lieber joggen (Rad fahren, walken etc.), das hilft besser gegen die Wut. Und vielleicht auch im Falle einer Infektion, weil unser Immunsystem etwas gestärkter ist. Das physische und vielleicht auch psychische, das hier in Deutschland immer noch anfällig ist für eine Sündenbock-Mentalität.

Leider ist es aber so, dass es eine kleine Gruppe von Jugendlichen gibt, die den Vorurteilen völlig entspricht: junge Männer, mit einem oft eher niedrigen Bildungsniveau aus Kleinstädten mit  schwierigen Familienverhältnissen. Sie sind durch die Corona-Krise noch weiter abgehängt als vorher – in der Schule, im Beruf, finanziell und mit Blick auf ihre Perspektiven. Sie haben nichts zu verlieren – auch nicht durch eine Infektion…

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