Warum jetzt alle puzzeln…

von Ines Imdahl

kultur & gesellschaft

Warum jetzt alle puzzeln…

von Ines Imdahl

und warum das mehr als ein Zeitvertreib ist und zeigt, dass es noch kein „New Normal“ gibt.

Sind Sie auch vom Puzzle-Fieber gepackt? Und das, obwohl Sie vielleicht noch nie vorher gepuzzelt haben? Puzzeln war für Sie vielleicht sogar der Inbegriff von Spießigkeit oder zumindest aber doch eine sehr aus der Zeit gefallene Beschäftigung? Bestenfalls früher oder als Kind wurde gepuzzelt. Kinder heute aber sind eigentlich auch lieber am Handy.

Sie puzzeln nicht? Möglicherweise ist Ihnen dennoch aufgefallen, dass auf Instagram, Facebook und Co. die Zahl der Puzzle-Posts in den letzten Wochen dramatisch gestiegen ist. Vielleicht haben Sie auch verwundert zur Kenntnis genommen, dass einige Freunde oder Bekannte, die Sie bisher anders eingeschätzt hatten, unter die Puzzler gegangen sind. Das Traditionsunternehmen Ravensburger verzeichnet jedenfalls dieser Tage einen enormen Umsatzzuwachs bei Puzzeln und Brettspielen. Auffallend vielen Deutschen scheint das Puzzeln plötzlich zum beliebten „Zeitvertreib“ geworden.

„Vertreib der Langeweile“ während der dunklen Jahreszeit im zweiten Lockdown wäre eine scheinbar vernünftige Erklärung. Wenn alles geschlossen ist, suchen wir in unseren vier Wänden vielleicht nach etwas Abwechslung in unseren Tätigkeiten. Dennoch gäbe es zahlreiche Beschäftigungs-Alternativen. Dass die Menschen ausgerechnet puzzeln, hat vor allem einen psychologischen Grund.

Die Krise hat uns nicht nur stillgelegt, sie hat unseren Alltag zerlegt.

Unsere täglichen Abläufe und Routinen, der gesamte Alltag – alles ist aus den Fugen geraten. Eingespielte Strukturen wie das Aufstehen um eine bestimmte Zeit, das Frühstücken, Kaffee trinken oder To Go besorgen, ins Büro oder zur Arbeit fahren, sich zum Mittagessen in der Kantine oder zum Kaffee in der Küche treffen – alles muss neu sortiert werden.

In unseren Befragungen erzählen die Menschen, wie schwer sie es finden, im Home Office konsequent feste Tages- und Arbeitsabläufe durchzuhalten. Weil sie plötzlich merken, dass der kurze Austausch mit Kollegen nicht nur eine Unterbrechung des Arbeitsrhythmus, sondern auch ein Kreativitätshelfer war. Nervige „Erinnerer“ an unerledigte Aufgaben entpuppen sich bei gänzlicher Abwesenheit plötzlich als Priorisierungshilfe. Jugendliche im Home-Schooling hören auf sich zu schminken, ziehen sich, ähnlich wie viele im Home Office, nicht mehr komplett an und schieben Hausaufgaben in die späten Abendstunden. Andere hingegen haben renoviert, neu sortiert und aufgeräumt. Diese letztgenannten Tätigkeiten sind vergleichbar mit dem Puzzeln.

In den Videokonferenzen wird das „New Normal“ beschworen. Wir wollen uns weiter als optimistisch, krisenfest und zukunftsorientiert präsentieren. Wir betonen, unsere digitale Entwicklung (zu Recht). Aber eine neue Struktur, eine neue Fassung, ein neues Normal gibt es noch nicht.

Seit März befinden wir uns in einer seelischen Fassungslosigkeit.

Fast täglich aufs Neue. Gerade, wenn wir uns an eine neue (Verhaltens-) Regel gewöhnt haben, wird wieder „umgeregelt“, neu sortiert, neu entschieden. Oder es gibt ein mutiertes, sich noch schneller verbreitendes Virus, jemand wird krank, man geht selbst in Quarantäne. Planen ist schwierig: Urlaub buchen? Silvester oder der nächste Geburtstag mit wenigstens ein zwei lieben Menschen? Hochzeit verschieben? Schule mit Präsenz oder ohne? Wir wissen es einfach nicht. Von Woche zu Woche müssen wir uns weiter sehen. Oft von Tag zu Tag. Der Schulbetrieb mutet es uns manchmal gar stündlich zu. (mein jüngster Sohn wusste an verschiedenen Tagen morgens nicht, ob er den ganzen Tag Präsenzunterricht hatte, oder ein Teil ab 12 Uhr nach Hause verlegt wurde).

Was das mit dem Puzzeln zu tun hat? Ein Puzzle ist ein zerlegtes Ganzes. Es symbolisiert unser Innenleben und unsere derzeitige Alltagsstruktur. Zerlegt, zerpflückt, zerstückelt und ungeordnet. Aber das Puzzle können wir wieder zusammensetzen. Wir erschaffen uns mit dem Puzzle selbst einen neuen Rahmen. Eine komplette, vollständige (hoffentlich fehlt kein Teil) neue Ordnung, ein sinnvolles Bild. Viele Teile führen Stück für Stück am Ende zu einer neuen Struktur, die einen Sinn hat. Beim Puzzeln können wir das Leben wieder in den Griff nehmen.

Das Puzzeln bringt unser Innenleben – symbolisch auch unseren Alltag – wieder in eine fest ineinandergreifende Struktur.

Jenseits von Tätigkeiten wie dem Puzzeln stehen wir der Krise fast überall seelisch hilflos sind. Wir können die kaputt gegangene Struktur des Alltags derzeit nicht reparieren, zusammensetzen und strukturieren. Unsere Psyche hält das aber nicht aus. Sie muss es immer wieder versuchen. Sie will nicht ausgeliefert sein und im Nichts-Tun versacken. Im Puzzle gelingt uns das, was uns in unserem Alltags- und Arbeitsleben seit Corona kaum gelingt: Hier können wir das durch Corona Zerlegte wieder zusammen führen. Das gehört derzeit zu unseren größten Sehnsüchten (weshalb wir auch das New Normal ständig beschwören, wir wollen es unbedingt haben!).

Das fertige Puzzle liefert nicht nur eine Struktur, sondern ein Bild. Denn es fügt sich zu etwas Sinnvollem zusammen. Auch das ist eine Sehnsucht. Dass die ganzen Regeln, Vorschriften, das ganze Verzichten zu einem sinnhaften Ende führen. Etwas, wozu das gut war. Etwas, das wir sehen, greifen und fassen können. Wenn wir uns die Krise „fassbar“ gemacht, erklärt und in einen Zusammenhang gebracht haben, dann sind wir auf dem Weg in ein „New Normal“.

Bis dahin ist das Puzzle nicht schlecht für unsere Seelenhygiene. Ein Hilfskonstrukt zwar im fehlenden „Normal“, um eine Struktur zu finden und uns sich innerlich zu ordnen. Aber mit 1000 Teilen und mehr ist das Puzzle kleinteilig genug, um symbolisch auch für die vielen zu beachtenden neuen Regeln herzuhalten. Es bietet sich an als eine Art „Übergangsobjekt“ in der Krise: am Puzzle können wir eine neue Ordnung herstellen, solange bis wir in der Lage sind, einen echten neuen Alltags-Rahmen, ein neues Alltags-Bild, eben ein echtes „New Normal“ zu strukturieren. Und das ist mehr als ein bloßer „Zeitvertreib“.

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Der Artikel erschien ebenfalls in der planung&analyse.