Warum qualitative Marktforschung im Zeitalter von KI wichtig ist.

von Ines Imdahl

unternehmen & wirtschaft, verfassungsmarketing & zielgruppen, werbung & kommunikation, wissenschaft & theorie

Warum qualitative Marktforschung im Zeitalter von KI wichtig ist.

von Ines Imdahl

Ines Imdahl hat für die Jubiläumsausgabe von planung&analyse zum 50sten Erscheinungsjahr ein psychologisches Plädoyer für das Menschliche in Zeiten zunehmender Automatisierung und KI und die damit verbundene Aktualität der qualitativen Marktforschung geschrieben. Lesen Sie hier den Beitrag im Original. Zum Heft und E-Paper gelangen Sie hier.

Sprechen, Zuhören, Sinn und Zusammenhang finden.
Warum qualitative Marktforschung im Zeitalter von KI wichtig ist.

Hat die qualitative Forschung eine Zukunft? Wissen Google, ChatGPT und KI denn nicht schon alles?
Genau das wurde ich kürzlich auf einer Veranstaltung vom Manager einer Band gefragt. „Sie befragen Kunden noch direkt? Ist das nicht völlig old school?“

Dem Manager stehen – wie anderen Unternehmen auch – viele Daten zur Verfügung. Er weiß genau, wie viele Menschen, welche Songs seiner Band kaufen, wie viele gestreamt werden oder wie viele das ‚Produkt‘ live sehen.

Er kann aber in den großen Datenmengen keinen sinnvollen Zusammenhang erkennen. Und vor allem: Er kann keine Ableitungen oder gute Prognosen entwickeln, die seine Entscheidungen für zukünftige Tätigkeiten zielsicherer machen. Und hier räumte er ein, wäre es gut, die Menschen direkt zu befragen. „Wann magst Du die Band lieber live sehen? Warum ist das so? Wieso streamst Du den ganzen Tag einen einzigen Song? Und warum kaufst Du dieses, aber jenes Album eben nicht?“ Einfache Antworten nach „Gefallen“ bestimmter Songs, ergeben keine schlüssigen Erklärungen für die Verkäufe, Konzertbesuche oder Streamings.

Faktisch werden Kundinnen und Kunden allerdings immer weniger direkt oder gar ausführlich befragt. Auch marktforschungsaffine Unternehmen, etwa aus dem FMCG-Bereich, haben ihre Etats in den letzten Jahren mehr als einmal drastisch gekürzt. Das hat auf den ersten Blick „logische“ Gründe:
1. Unternehmen ist heute ein direkter Zugang zu ihren Zielgruppen möglich, der früher der Marktforschung vorbehalten war. Über Social Media und DIY-Plattformen können sie ohne Umwege mit den Menschen in Kontakt treten und Feedback einholen.
2. Digitalisierung, Automatisierung, Deep Learning und KI machen die Marktforschung schneller und günstiger. Schon für kleines Geld viele Menschen befragen und innerhalb von wenigen Stunden Antworten erhalten? Das ist möglich.

Der Umweg über das wohlmöglich lange und persönliche (Tiefen-) Interview scheint überflüssig, kompliziert und aus der Zeit gefallen. Zumal sich im Bereich der qualitativen Forschung im letzten Jahrzehnt im Grunde fast nichts verändert hat. Immer noch offene Fragen und persönliche Gespräche, im besten Fall Auswertung und Interpretation gemäß einer Theorie. Neue Theorien sind kaum auszumachen. Kognitive, semiotische, psychologische und selbst eine der jüngsten, die morphologische Psychologie, sind nun wirklich nicht mehr taufrisch. Demgegenüber stehen die disruptive Technologie-Entwicklung der quantitativen Forschung. Von Pencil-Paper Befragungen über CATI hinzu mobilen, online und automatisierten Befragungen, Big Data Analytics, KI und Deep-Learning zeigt sich ein sich selbst befeuernder Wandel, mit dem alle Schritt zu halten versuchen.

Macht dies die qualitative Forschung nicht tatsächlich überflüssig?

Kundendaten sammeln alleine genügt nicht. Sie müssen sinnvoll eingeordnet werden.

Mehr Daten und direkterer Zugang zu den Menschen sollten schließlich eine größere Kundennähe schaffen. Die jüngsten Entwicklungen zeigen: Zwar glauben immer mehr Unternehmensentscheider die Bedarfe ihre Kundinnen zu kennen, aber immer weniger Kunden sehen das genauso. (Quelle Harvard Business Manager August 2023)

Aus psychologischer Sicht lassen sich verschiedene (paradoxe) Entwicklungen beobachten, die nicht nur den Mehrwert, sondern gar die Notwendigkeit des Gespräche-Führens und Zuhörens und des Herausarbeitens von Sinn und Zusammenhang, wie es in der qualitativen Forschung üblich ist, unterstreichen. Blicken wir einmal ein wenig tiefer in die Glaskugel zur Zukunft der qualitativen Forschung.

Erstes Paradox: Weil „Alles“ offensichtlich ist, findet das „Eigentliche“ immer weniger Gehör.

In einer Zeit von Datenfülle und neuen unkomplizierten Möglichkeiten, die Verbraucherinnen und Verbraucher zu erreichen, wenden sich Unternehmen immer seltener direkt an die Menschen. Sie glauben ihre Zielgruppen und Kunden zu kennen, weil Daten massenhaft zur Verfügung stehen und es scheinbar „offensichtlich“ ist, was Menschen bewegt. Dieses Augenscheinliche wird immer seltener hinterfragt. Die schiere Menge und die bloße Möglichkeit des Zugriffs, schaffen ein Gefühl der Sicherheit und Kontrolle. Es ist ja „Alles“ da.

Dieses „Alles“ wird durch weitreichende Automatisierungsprozesse und die zunehmende Nutzung von KI-Tools gescannt und sortiert. Bestenfalls auch systematisch und regelmäßig ausgewertet. Idealerweise wird ein System entwickelt, das selbständig und unabhängig von weiterer – menschlicher – Einflussnahme funktioniert. Die Faszination, die diese Technologien ausstrahlen, ist beinahe überall zu spüren. Leuchtende Augen, flammende Reden, wenn es um die grenzenlose Welt der Digitalisierung und KI geht – sie kann nicht nur das „Alles“ auswerten, erleichtern und beschleunigen. Sie scheint gleichzeitig von der lästigen Auseinandersetzung mit dem Störfaktor Mensch zu entlasten, der in seinem Verhalten und Erleben, seinen zum Teil unsinnig und wechselhaft anmutenden Wünschen, seinem komplexen Seelenleben sich keineswegs so geschmeidig in die Unternehmenspläne einfügt. Es ist wie eine insgeheime Wunscherfüllung: Über die perfektionierten Prozesse können die Bedarfe der Menschen gleichzeitig passgenau bedient und – zumindest im Unternehmens-Alltag – ignoriert werden.

Kunden wollen gehört & verstanden werden. KI kann dies nicht leisten.

Bedient im Sinne von entnervt, fühlen sich auch viele Kundinnen und Kunden. Es wird immer schwieriger, sich direkt an Unternehmen zu wenden oder mit wichtigen Anliegen außerhalb der Standardisierung durchzudringen. War die Kundenbetreuung jüngst noch an Call-Center ausgelagert, sind nun vermehrt Bots vorgeschaltet. Immer häufiger hängen Kundinnen nicht nur in Warteschleifen, sondern Feedback-Loops fest. Statt mit direktem Ansprechpartner diskutieren sie mit der KI oder verzweifeln an standardisierten Antwortmöglichkeiten.

Das gilt auch zunehmend für die Art, wie die Menschen in der Forschung befragt werden. Falls sie befragt werden. Am grünen Tisch werden Fragen überlegt, die oft an den Bedarfen der Menschen vorbei gehen. Überprüft, ob die befragten Themen, die sind, die die Menschen „eigentlich“ bewegen, ob ein Produkt oder ein Service eine echte Lösung oder einen Mehrwert im Alltag der Menschen darstellt, wird kaum noch. Es geht direkt in den Vergleich: Was ist besser, was ist schlechter: A oder B? Wie in den bekannten ‚Persönlichkeits-Tests‘ aus Zeitschriften passt eigentlich keine der Antwortmöglichkeiten: Gewählt wird, was vielleicht am wenigsten unpassend ist. Wohl fühlt man sich damit aber nicht. Noch ‚smarter‘ wird Forschung ganz ohne Menschen, in der die KI Personas und Teilnehmende simuliert. Hier kann der ‚Störfaktor‘ Mensch gänzlich eliminiert werden und auf die Befindlichkeiten oder Verfügbarkeiten muss auch niemand mehr Rücksicht nehmen.

So findet das „Eigentliche“ in den riesigen Datenmengen kaum mehr Gehör. Aber es lässt sich auf Dauer nicht heraushalten, sucht sich seinen Raum. Immer mehr Menschen beschäftigen sich – auch auf Social Media – mit psychologischen Coaches, mit Empathie, Emotionalität und positivem Mind-Set. Sie wollen selbst Psychologie studieren (kaum ein anderes Studienfach ist so gefragt), wollen ihren Träumen, Wünschen und Befindlichkeiten auf den Grund gehen. Intensiv. Ein riesiger Trend. Da, wo sie sich besonders „überhört“ fühlen, gehen sie noch weiter: auf die Strasse oder in die Radikalität. Oft als letzter Ausweg, um sich Gehör zu verschaffen. (Quelle „Medien zwischen Achtung und Ächtung“, rheingold salon im Auftrag der Stiftervereinigung Presse, des BDZV, der Stiftung Presse-Haus NRZ). Auch für die Unternehmensführung ist das Thema Empathie ein wichtiges Führungsskill geworden, mit dem sich gern geschmückt wird. Nur in der Kunden- und Zielgruppenbefragung geht es vor allem technologisiert und ‚befreit‘ vom Menschlichen zu. Das „Eigentliche“ bleibt hier oft außen vor.

Unternehmen können zuhören & verstehen. Dabei unterstützt die qualitative Marktforschung.

Das ist umso problematischer, da Menschen aktuell viel Hoffnung in die Unternehmen setzen. Genau genommen sind sie die letzten verbleibenden Hoffnungsträger für die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen. Die Politik hat hier ausgedient. Zumindest in der westlichen Welt schaffen weder Politik noch Religion es, für klare Leitlinien und Orientierungen zu sorgen. Um das in sie gesetzte Zutrauen nicht zu verlieren, sollten Unternehmen nicht nur die Optimierungen ihrer Abläufe im Blick haben – und den Kunden dabei lediglich als „Geldmittel“ sehen . Sie müssen ihm mindestens einen weiteren Sinn schenken und ihr Gehör leihen. In Form von qualitativen Befragungen.

Unsere Erfahrung zeigt: Wenn der Erfolg trotz optimal digitalisierter Prozesse und Feedbackschleifen ausbleibt oder schwindet und sich zeigt, dass Mensch und Maschine durchaus verschieden funktionieren, öffnet oftmals die Tür für die qualitative Forschung.

Direkte Gespräche und tiefenpsychologische Befragungen führen zu Aha-Momenten, die zeigen, wo die waren Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden liegen und wann sie neben der KI auch mal einen echten Menschen brauchen. Unternehmen, die ihren Kunden regelmäßig Gehör schenken, haben einen echten Vorteil, auch bei der Nutzung der KI und Digitalisierung. Denn diese kann nur so menschlich sein, wie die Menschen, die sie füttern und immer wieder nachjustieren. Und auch wenn es noch so verlockend ist: um die Auseinandersetzung mit dem Menschlichen kommen die Unternehmen nicht herum. Es mag mühselig sein, nicht allen Äußerungen direkt Glauben zu schenken, und immer wieder nachfassen zu müssen. Für ein besseres Verständnis des Menschlichen, Seelischen und oftmals scheinbar Unsinnigen gibt es jedoch nur einen Weg: mit Menschen reden, um sie zu verstehen. Direkt und persönlich.

Zweites Paradox: Der Wunsch nach umfassender Berechenbarkeit fordert einen festen Glauben an das „Unbekannte“ und fördert das Revival der Blackbox.

Verstehen ermöglichen. Qualitative Marktforschung & die Frage nach dem Warum.

Das umfassende Vermessungs- und Berechnungsversprechen durch KI und Digitalisierung hat seinen Preis. Er geht mit dem festen Glauben an eine Unbekannte einher. Denn die KI und Deep Learning sind ab einem bestimmten Punkt nicht nur intransparent, sondern vom Menschen wirklich nicht mehr nachvollziehbar. (Quelle: „Die KI wars“ Katharina Zweig). Verzichtet wird auf das Verstehen und das „Warum“. Beides bleibt außen vor bzw. innen drin: in der Blackbox. Sie ist das Ungewisse, das Unwägbare, mit dem gelebt werden muss.

Immer häufiger begegnet auch der qualitativen Forschung ein Desinteresse am tieferen Verstehen. Ein Pharmaunternehmen kann mit einer Werbung auf Social Media sein Skandal-gebeuteltes Image messbar aufpolieren? Das reicht. Warum das so ist, ist nicht von Interesse. Die Werbung wirkt. Zumindest in die vermeintlich richtige Richtung. Damit kann man sich sehen lassen, beim Chef, beim Stakeholder, beim Investor.
Den allermeisten ist das „Warum“ oder „Wie“ der künstlichen Entscheidungsprozesse auch für ihren persönlichen Alltag egal. Müsste ein Arzt, eine Ärztin oder eine KI entscheiden, wer bei einer Transplantation den Vorzug erhält, wünschen sich die viele sogar die Entscheidung durch die KI. Im blinden Vertrauen, dass diese das neutraler entscheidet.
Warum die KI wie entscheidet ist aber nur so lange egal, bis man persönlich eine Entscheidung nicht mehr als gerechtfertigt empfindet: „Warum bekomme ich den Kredit oder die Wohnung nicht? Wieso wurde mein Social Media Account gesperrt?“ Was manchmal noch abstrakt klingt, kann eventuell an der Schufa-Auskunft nachvollzogen werden. Die Schufa Bewertung wird oft als undurchsichtig und ungerecht empfunden. Ordnen Maschinen uns in bestimmte Schubladen ein, kann das unser Leben stark beeinflussen. Das blinde Vertrauen in die Richtigkeit der Entscheidungen von Algorithmus und KI, wirft uns in das Zeitalter der Schicksalsgläubigkeit zurück.

Auch die Unternehmen. Erst wenn die Anzeige, die doch angeblich das Image verbessert hat, den Shitstorm nicht verhindert, wird vielleicht an dem Urteil des neuen ‚Gottes‘ gezweifelt und genauer hingeschaut. Aus der Not wird das Opfer der persönlichen Befragung gebracht.

Zusammenhänge verstehen & Sinn finden. Qualitative Marktforschung in Zeiten des Umbruchs.

Qualitative Forschung richtig verstanden, ist keine lästige Notlösung, wenn man nicht mehr weiter weiß. Wollen wir Herr über die Geister, die wir riefen, sein, so ist das Warum und das Verstehen des menschlichen Verhaltens und Erlebens der Schlüssel. Wir treten damit einer schicksalhaften Ergebenheit in neuer gottähnlicher Willkürstrukturen entgegen. Solange wir Sinn hinterfragen und Zusammenhänge aufdecken, halten wir KI und die Blackbox nicht nur in Schach, sondern nutzen sie im Sinne der Menschlichkeit. Und dies ist der einzige Sinn, den sie haben sollte.

Qualitative Forschung hilft das „Eigentliche“ im Blick zu behalten und ihm Gehör zu verschaffen. Sie offeriert Verstehen, wo wir uns nicht einfach mit Gegebenheiten und Entscheidungen abfinden wollen oder dürfen. Sie schafft Zusammenhänge und Sinn, den die Menschen aktuell dringender suchen als jemals zuvor. Und sie liefert mit ihren verlässlichen, bewährten Methoden ein Anker der Stabilität und Sicherheit in Zeiten der Unwägbarkeiten und des Ungewissen. Denn sie weiß mit dem Menschlichen umzugehen, es einzuschätzen und sinnvoll zu deuten. Weil sie darin unglaublich viel Übung hat.Und last, but not least: Qualitative und quantitative Forschung sind nicht nur keine Gegensätze, sondern bedingen einander, um den Sinn der Forschung in Zukunft relevant zu halten. Technologische Entwicklungen brauchen die sinnvolle Einordnung mehr denn je.