Wenn Eltern die Krise kriegen

von lönneker & imdahl rheingold salon

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Wenn Eltern die Krise kriegen

von lönneker & imdahl rheingold salon

Ines Imdahl im Interview mit Eltern. Lesen Sie hier den Original-Artikel von Verena Carl und Heike Kleen im Wortlaut:

Rolle Rückwärts? Ohne uns!

Die Corona-Pandemie hat unser Leben in den vergangenen Monaten auf links gedreht. Und vor allem Mütter schwer gebeutelt: Homeoffice, Homeschooling, Homework – es war und ist der Wahnsinn! Wohin führt das alles, haben wir uns gefragt: zurück in die Fünfzigerjahre – oder vorwärts, zu einer gerechteren Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit? Unsere Autorinnen Verena Carl und Heike Kleen haben sich das mal angeschaut. Ihr Fazit: Die Lage ist ernst. Aber Ärmel hochkrempeln lohnt sich. Gerade jetzt!

Mutter, Vater, Kind, Corona: Was bisher geschah

Im Frühjahr begann der Lockdown. Jetzt haben wir Spätsommer. Wie ging es uns Familien? Wie geht es uns jetzt? Wir sind angestrengt, erschöpft, ja. Aber nicht alle!

Phase 1: Luft anhalten, weiter atmen

Ganz am Anfang der Krise, ganz im Norden, zerrinnt einer Mutter die Lebensplanung zwischen ihren Fingern. Sandra, 48, lebt mit Mann und sechsjähriger Tochter an der Küste in Mecklenburg-Vorpommern, hat viele Jahre in der Boombranche Tourismus gearbeitet und sich gerade selbstständig gemacht, als Personalberaterin in der Kreuzfahrtindustrie. Zwei Wochen später branden die ersten Nachrichten von Covid-19-Infektionen in Europa an. „Innerhalb kürzester Zeit gingen meine Aufträge von hundert auf null zurück. Beim Blick auf meine Kontoauszüge fragte ich mich jeden Tag: Wie lange können wir noch atmen?“ Schließlich verdient ihr ägyptischer Mann mit Hausmeisterjobs nur wenig. Zurück in eine Festanstellung? Job­angebote sind rar, wenn, dann in Vollzeit, und wer soll der Tochter beim Lesenlernen helfen, wenn der Vater kein Muttersprachler ist? Also beantragt Sandra Grundsicherung, schreibt Protestbriefe an Ministerien, setzt eine Web-Idee um (siehe Kasten), legt Gemüsebeete an, kauft zwei Meerschweinchen. „Unser Kind soll nicht unter der Situation leiden.“ Und sie selbst? „Ich bin vor allem wütend. So viel Arbeitskraft und Know-how wird hier verbrannt!“
VERNETZT: Sandra Kloss-Selim hat während des Lockdowns eine Vernetzungsplattform gegründet: Unter quality-times.de finden Eltern dort Ersatz-Omas oder -Patentanten auf Zeit für ihre Kinder – und Kinderlose kleine Gefährten für Freizeitaktivitäten von Museumsbesuch bis Kanutour. Auch eine Betreuungsalternative!

Köln: Ines Imdahl, Diplom-Psychologin

In der Mitte Deutschlands, in Köln, sitzt derweil Ines Imdahl, Diplom-Psychologin, Mitgründerin des Forschungsinstituts „rheingold salon“, und macht sich Sorgen. Seit mehreren Jahrzehnten nimmt sie mit ihrem Team die Befindlichkeiten, Sorgen und Wünsche von Frauen unter die Lupe. Schon im März, nach der TV-Ansprache der Bundeskanzlerin sagt sie: Vor allem Mütter werden den Preis für die Corona-Krise zahlen. Weil sie verinnerlicht haben: Klar darf ich mich um Karriere und persönliche Ziele kümmern – aber nur, wenn die Partnerschaft, die Kinder, am besten nicht einmal der Haushalt darunter leiden. Dieser Perfektionsdrang fällt ihnen jetzt auf die Füße, sagt Imdahl: „Es gibt Mittelschichtsmütter, die machen seit Beginn der Pandemie zwei Fulltime-Jobs.“ Weil sie neben ihrem Homeoffice den Anspruch haben, im Homeschooling zu performen wie die Lehrer. Besser: noch besser. Ihren Größeren Software zur Aufgabenorganisation auf den Laptop laden, den Kleineren die Bügelperlen plätten. 8,8 Millionen Schul- und Kitakinder sind zu diesem Zeitpunkt ohne Tagesbetreuung. Folge: „Die Mütter hecheln jetzt bei der Arbeit hinterher, während Kinderlose an ihren Karrieren schrauben – und auch jene Väter, denen die Frauen ganz nebenbei noch die Hemden bügeln.“ Kein Klischee, sondern Zahlen des sozioökonomischen Panels: Selbst bei Elternpaaren, die beide Vollzeit beschäftigt sind, kümmern sich Frauen im Schnitt fast zwei Stunden täglich mehr um Kinder und Haushalt als Männer; ist er Hauptverdiener und sie Zuverdienerin (trifft in Deutsch­land auf fast jede zweite Familie mit Kindern unter zwölf Jahren zu), erhöht sich die Differenz auf über fünf Stunden.

Freiburg: Janis, 38, Pflegedienstleiterin

Weitere 450 Kilometer südlich, in einem Dorf bei Freiburg. Das Leben der 38-jährigen Janis erinnert an den Computerspiel-Klassiker „Tetris“: dort geometrische Formen anordnen, die immer schneller über den Bildschirm gesaust kommen, hier den Alltag jonglieren. Als Pflegedienstleiterin in Teilzeit muss sie komplizierte Dienstpläne aufstellen und hat die Verantwortung für 45 Angestellte. Ihr jüngerer Sohn ist sechs und geht noch in die Kita, ihr älterer Sohn Jannik, 8, braucht als Asperger-Autist ständige Schulbegleitung, ihr Mann geht als Lkw-Fahrer früh aus dem Haus und kommt spät nach Hause. Der familiäre Zeitplan ist auf Kante genäht. Mit der Corona-Kurve steigt das Tempo noch mal um mehrere Level.
Janis ist jetzt offiziell Alltagsheldin, abends klatschen Menschen von Balkonen. Aber das ist ein schwacher Trost, wenn die Notbetreuung nicht greift, weil nur ein Elternteil einen Job hat mit dem Label „systemrelevant“. Wenn im Pflegeheim zusätzlich besorgte Angehörige Schlange stehen, die ihre Angehörigen nicht besuchen dürfen. Wenn nach den Osterferien jeder Sohn einen anderen Präsenztag in der Schule hat und Jannik täglich ausrastet, weil der Krisenmodus ihm die feste Struktur nimmt – purer Stress für Kinder wie ihn. „Mein Mann hat größten Respekt dafür, was ich leiste“, sagt Janis. Aber mehr als ein Familientag pro Woche ist für ihn nicht drin. Ansage vom Chef. Wie kommt sie klar mit dem Druck? „Ich kann nur dafür sorgen, dass es mir gut geht. Der wöchentliche Sportabend mit meinen Freundinnen ist mir heilig.“

„Frauen werden gerade um 30 Jahre zurückgeworfen“

Nicht nur Ines Imdahl warnt, dass Mütter zusammenklappen, abgehängt werden oder beides. Im April prognostiziert die Soziologin Jutta Allmendinger im Talk bei „Anne Will“, Frauen würden ­gerade um 30 Jahre zurückgeworfen. CSU-Chef Markus Söder wischt solche Prognosen markig vom Tisch: „Es geht nicht um die Rückkehr zum Herd, sondern ums Homeoffice – das kann sogar gut sein für die Work-Life-Balance!“
Janis kann er damit nicht meinen, denn wie viele Mütter arbeitet sie in einem typischen Frauenjob: Pflege, Kita-Jobs und Co sind so anspruchsvoll wie schlecht bezahlt, und man kann sie weder mit nach Hause nehmen noch beschleunigen. Nur in 57 Prozent aller Paarfamilien ist zumindest für einen Elternteil Arbeit im Homeoffice möglich, bei Alleinerziehenden liegt der Anteil sogar nur bei 35 Prozent, findet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) heraus. Im WZB- Forschungsinstitut kommt man zum Ergebnis: Die Lebens- und Arbeitszufriedenheit sinkt durch Corona stärker bei Familien als bei Kinderlosen und bei Müttern deutlich stärker als bei Vätern. Die Folgen beziffert die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung: 27 Prozent aller Mütter von Kindern unter 14 haben seit Beginn der Corona-Krise ihre im Durchschnitt ohnehin schon geringere Stundenzahl im Job weiter reduziert, aber nur 16 Prozent der Väter.

Phase 2: Durchwursteln, neu finden

Die Corona-Beschränkungen werden gelockert. In den Szenevierteln Hamburgs füllen sich die Straßencafés wieder, an der Elbe schwitzen Jogger, und Alexandra, 27, sagt: „Uns geht es ziemlich gut.“ Vor Corona sah das Leben mit ihrem Freund Finn, 32, so aus: gemeinsam um Tochter Nora, 5, kümmern, jeder für sich beruflich ranklotzen. Alexandra für ihre Doktorarbeit in Physik, Finn in Teilzeit bei einer Bank, am Wochenende bei der Gründung eines eigenen Start-ups für Veranstaltungstechnik. Ausgerechnet Virus plus Kita-Schließung zwangen die beiden, die Karten neu zu mischen: Die Gründung liegt auf Eis, jeder hat genau zweieinhalb Arbeitstage, und am Wochenende ist plötzlich viel Zeit zu dritt. Ungewohnt für das Powerpaar: „Es ist wie eine Elternzeit, die wir nie richtig hatten.“ Ein ungebetenes Geschenk – selbst wenn es finanziell Abstriche bedeutet und ­Alexandra sich auch sorgt, ob sie ins Hintertreffen gerät. Weil Kollegen die Zeit ohne Kongresse und Unibetrieb zum Schreiben und Forschen nutzen, während sie mit ihrer Tochter spielt. „Es ärgert mich, dass die Politik sich zuerst um Autohäuser gekümmert hat und erst dann um Kitas.“ Das Positive? „Finn und ich sind ein super Team, wir können Krise.“
VERLETZT: Traurige Gewissheit: Anfang Juni veröffentlichte die TU München eine Studie zum Thema häusliche Gewalt in den ersten Monaten der Pandemie. 10,5 Prozent aller Kinder und 7,5 Prozent aller Frauen, die zu Hause in Quarantäne waren, haben demnach darunter gelitten. Am höchsten war die Gefahr, wenn weitere Stressfaktoren dazu kamen wie besondere räumliche Enge und finanzielle Sorgen.

Hamburg: Martina, 51, Werbetexterin

Einen Stadtteil weiter hat Martina (Name geändert), 53, weniger gute Erfahrungen gemacht. Sie und ihr Exmann sind seit acht Jahren getrennt, die Teenie-Kinder pendeln wochenweise. Mit Corona flog ihnen der Familienvertrag um die ­Ohren: „Weil ich als freiberufliche Werbetexterin zu Hause arbeite, bleibt das Homeschooling an mir hängen – mein Ex geht in seiner Woche einfach ins Büro. Wenn nachmittags unser Zwölfjähriger vor der Tür steht, weil er mit den Aufgaben nicht weiterkommt – soll ich ihn wegschicken?“ Was sie betrübt: „Warum wird die Arbeit von Frauen so oft geringer geschätzt als die von Männern?“
Beispiele, die zeigen: Covid-19 ist kein Erdrutsch, der die Landschaft verändert – sondern es zeigt wie unter einer Lupe bestehende Strukturen. Man könnte auch sagen: von wegen Rückkehr zu alten Rollenbildern, von wegen „REtraditionalisierung“! Wir waren auch vor Corona nicht so weit, wie wir dachten, und standen noch mit einem Bein in den Fünfzigern: Der Staat belohnt immer noch Familien mit hohen Einkommensdifferenzen, von der kostenlosen Mitversicherung in der Krankenkasse bis zum Steuerrecht. Trotz Kita-Ausbau, trotz Elterngeld Plus.

Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich geändert

Zahlen des Bundesfamilienministeriums von 2016 sprechen eine eindrückliche Sprache: Selbst wenn Eltern minderjähriger Kinder beide die gleiche Schulbildung und das gleiche Berufsbildungslevel vorweisen können, verdienen 19 Prozent der Mütter null, 63 Prozent unter 1000 und nur sechs Prozent mehr als 2000 Euro monatlich brutto. Auch die Abstands- und Kontaktregeln während der Lockdown-Phase offenbarten ein traditionelles Familienbild: Die Politik, so schien es, ging davon aus, dass eine Hausgemeinschaft vor allem aus Mann und Frau, Eltern und Kindern besteht. Schwerer hatten es Single-Moms (oder Dads), die sich sonst auf ein Unterstützer-Netzwerk verlassen; Eltern, die getrennt wohnen, aber gemeinsam erziehen; Patchworkfamilien, die sich plötzlich nicht mehr treffen konnten.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich geändert, vor allem das der Jüngeren und der Männer. So verbringen etwa Väter, die länger in Elternzeit gegangen sind, auch Jahre später mehr gemeinsame Stunden mit ihren Kindern. Und junge Paare, die sich bewusst für fifty-fifty entscheiden – so wie Alexandra und Finn – lassen sich das so leicht nicht nehmen. Das beweist auch ein Blick zu unseren skandinavischen Nachbarn: Kein Zufall, dass etwa Dänemark schon das Wiederöffnen von Schulen und Kitas probte, als Deutschland noch über die Öffnung von Küchenstudios diskutierte. Denn zwischen Kopenhagen und Århus fallen Mütter als stille Reserve schlicht aus: Dänische Mamas tragen laut OECD-Statistik im Schnitt 42 Prozent zum Familieneinkommen bei – deutsche nur 22 Prozent.

Phase 3: Umdenken, Chancen ergreifen

Eine Kleinstadt in Westfalen, großzügige Häuser, sommerlich gepflegte Gärten. Ute, 44, sitzt im Arbeitszimmer vor der Laptop-Kamera und sagt: „Die Backlash-Diskussion nervt mich, wir Frauen sollten uns in der Arbeitswelt nicht in die Opferrolle drängen lassen. Wir haben es doch selbst in der Hand, wie wir Job und Familie organisieren!“ Klar, sie ist gut dran, und sie weiß es: Als festangestellte „Innovation Managerin“ bei einem Arbeitgeber, der Home­office schon lang im Gesamtpaket hat und einem Mann, der als Lehrer nicht erst abends Zeit hat für Alexander (2. Klasse) und Felix (5. Klasse). Aber Chancen entstünden jetzt für viele: „Wenn sich dank Corona herumspricht, wie gut das selbstbestimmte, agile, mobile Arbeiten funktioniert, ist das doch ein Traum – gerade für Eltern.“ Besonders Mütter brächten Fähigkeiten mit, die nach der Krise gefragt sein könnten: Kommunikationstalent, Konflikt- und Feedbackfähigkeit. „Wir sollten neue, gleichberechtigte Modelle konsequent einfordern!“
Auch Gerhard, 51, Unternehmensberater aus dem Rheinland und alleinerziehender Vater eines Zwölfjährigen, hat die Wochen mit Quarantäne und Homeschooling vor allem als bereichernd erlebt: „Als Vater und Sohn hat uns die Nähe gut getan, und ich merke, dass es mich freier macht, weniger zu planen und agiler zu denken.“ Auch was die Zukunft der Arbeit angeht, ist für ihn das Glas halbvoll: „Viele Bewegungen entstehen aus einer Krise heraus!“

Väter bekommen derzeit zu Hause mehr Routine

Man kann diese Hoffnung sogar belegen. Das Marktforschungsinstitut Innofact hat nachgefragt: Führungskräfte stehen Home­office und flexiblen Arbeitszeitmodellen nach den Erfahrungen im Corona-Modus positiver gegenüber als zuvor. Und eine Studie der Uni Mannheim kommt zum Schluss: Zwar gehören Frauen (besonders Mütter) kurzfristig zu den Verliererinnen der Krise, auch weil sie öfter in gebeutelten Branchen wie Reise und Gas­tronomie ­beschäftigt sind. Langfristig, schlussfolgert Studienleiterin Michèle Tertilt, könnte sich der Effekt jedoch umkehren: weil Mütter von der neuen Flexibilität der Arbeitswelt profitieren. Und: weil Väter derzeit zu Hause mehr Routine bekommen.
Das belegt auch eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB): Danach ist der Anteil der Väter an der Familienarbeit (Kinderbetreuung und Hausarbeit) in der Corona-­Zeit im Schnitt von 33 auf 41 Prozent gestiegen. Väter in Kurzarbeit sind noch engagierter.
VERÄNDERT: Mütter haben es gerade besonders schwer. Doch die dauerhafte Stressbelastung kann zu schweren physischen und psychischen Erkrankungen führen, meint Dr. Karella Easwaran, Kinder- und Jugendärztin, Mutter von zwei Söhnen und Expertin für Beneficial-Thinking. In ihrem neuen Buch „Das Geheimnis ausgeglichener Mütter“ erklärt sie, wie wir unsere Wahrnehmung beeinflussen können, um besonders schwierige Situationen zuversichtlich zu meistern (Kösel-Verlag, 16 Euro).
Und dann gibt es noch jene, die ihre Lebensentwürfe in diesem Sommer generell hinterfragen. Wie die Fotografin Sonya, 28, Mutter von Safiya, 4. Mit Freund Jens lebt sie in Hamburg zur Miete, seit März sind ihr fast alle Aufträge weggebrochen. Neulich, auf dem Rückweg vom Supermarkt, hat sie angefangen zu weinen. Aber nicht vor Verzweiflung. Sondern vor Glück. „Ich dachte immer, ich muss unbedingt mein eigenes Einkommen haben, darf mich bloß nicht abhängig machen von Jens und seinem Job als Chemiker. Geld ist ja ein Stück Freiheit. Und dann war ich plötzlich gezwungen, einen Gang runterzuschalten, und habe gesehen: Safiya ist so glücklich, einfach mit mir in den Tag hineinzuleben. Vorher war sie täglich acht Stunden in der Kita, häufig müde und spielte zu Hause kaum noch. Ich merke erst jetzt richtig, wie sehr mich das Muttersein erfüllt.“ Ihre Berufstätigkeit will sie zwar wieder hochfahren, wenn die Regelungen es erlauben – aber behutsam. „Ich weiß jetzt, dass wir auf kleinerem Fuß besser leben. Weil Zeit bleibt für das Wesentliche.“

Was heißt das jetzt:

Freiheit im Kopf statt Freiheit durch Geld? Oder eben doch der befürchtete Rückschritt um ­30, 50 oder noch mehr Jahre? In die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Generation von Frauen tatkräftig Trümmer wegräumte, das „Wirtschaftswunder“ danach jedoch den Männern überließ – so wie es Psychologin Ines Imdahl befürchtet?
Tatsächlich gab es kaum eine Phase im letzten Jahrhundert, in der Frauen und vor allem Mütter so wenig Spielraum bei der eigenen Lebensplanung hatten wie in den Fünfzigern und Sechzigern: Mama blieb zu Hause und durfte nicht mal ein eigenes Konto haben, wenn Papa das nicht wollte. Zementieren große Krisen – historisch gesehen – traditionelle Rollenbilder und schwächen so die Emanzipation?
Andreas Rödder, Professor für Neuere Deutsche Geschichte an der Uni Mainz und CDU-Mitglied, findet: Nein, das ist nicht vergleichbar. „In beiden Weltkriegen waren weiblich besetzte Arbeitsplätze eher eine Notlösung – die Männer waren an der Front, also brauchte man Frauen in der Industrie, vor allem in der Rüstung.“ Und das Ende der DDR, als der massive Abbau von Jobs stärker zulasten der Frauen ging? Auch das ist keine Blaupause für 2020, glaubt Rödder: „Frauen und Mütter sind heute ja nicht nur berufstätig, weil sie das Geld brauchen. Viel stärker geht es um Teilhabe, Erfüllung, Selbstbestimmung.“ Und dieses Bedürfnis verschwinde nicht einfach – genauso wie Diskussionen von Gender Pay Gap bis Gendersternchen* für eine geschlechtergerechte Sprache. Mit einer konkreten Zukunftsprognose tut er sich dennoch schwer. „Ob und wie die ­aktuelle Wirtschaftskrise unsere Rollenbilder beeinflusst, wird davon abhängen, wie tief und lang­anhaltend sie ist.“ Es gebe aber Grund zum Optimismus: „Schaut man sich die demografische Entwicklung an, werden wir auch bei einem schwachen Arbeitsmarkt wohl keine Massenarbeitslosigkeit bekommen.“ Geschichten wie Sonyas machen ihm keine Sorgen: „Eine Gesellschaft muss sich fragen: Soll der Staat in unsere Lebensentscheidungen hineinfunken und Rollenbilder vorgeben wie das Vollzeit-Doppelverdienerpaar – oder einen Rahmen schaffen, der verschiedenen Wertvorstellungen und Absprachen Platz lässt?“
Eine rhetorische Frage, klar. Jede und jeder sollte die Freiheit haben, sich die Balance zwischen Job und Familie, Eigensinn und Gemeinsamkeit zurechtzuzimmern. Doch was hilft uns jetzt, Wege offen zu halten und Weichen so zu stellen, damit das auch morgen möglich ist – vielleicht sogar besser als gestern? Und wer ist dabei gefragt: Politik, Arbeitgeber, Wissenschaft – oder gar wir selbst? Wir hätten da ein paar Ideen …

Phase 4: Rolle vorwärts! Was uns jetzt wirklich weiterhilft

„Wer sich nicht wehrt, landet am Herd!“ lautet ein feministischer Schlachtruf, den wir bis vor Kurzem vermutlich noch als ziemlich retro weggelächelt hätten. Dann kam Corona – und nun?
Nun ist auch mal gut! Jetzt muss er aufhören, der Ausnahmezustand. Jetzt wollen wir uns die Welt zurückerobern – mehr noch: Am liebsten würden wir die Krise als Chance nutzen und das Leben endlich mal zu unseren Gunsten umkrempeln!
Die große Frage ist allerdings: Wann haben wir Zeit für diese Revolution? Zwischen Homeoffice und Hausaufgaben? Vor der Musikschule oder erst, wenn die Wäsche trocken ist? Denn seien wir ehrlich: Seit der Geburt unserer Kinder läuft fast die ganze Familienorga in unserem Kopf ab. Wir Mütter wissen, wo der Turnbeutel liegt, dass die Erzieherin 29 wird und ob das Brot noch bis morgen reicht. Und weil wir das alles schon vor der Krise wussten, fühlten wir uns auch währenddessen zuständig: Mental Load nennen die Soziologen unser Kopfkino. Und genau in diese Richtung könnte er gehen, der erste Schritt: raus aus der Krise. Raus aus dem Kopfkino.

Liebe Eltern, lasst uns die Arbeit zu Hause neu verteilen!

Traut euch, Mütter, gebt einen Teil der Aufgaben ab, pfeift auf euer Mental-Load-Spezialwissen für Turnbeutel und Impftermine und macht eure Partner spätestens jetzt zum gleichberechtigten Haushaltsvorstand! Erst dann habt ihr Kapazitäten frei, um auch im Job mehr zu schaffen. In der Corona-Krise wurde endlich für alle und vor allem auch für eure Männer sichtbar, wie viel Arbeit zu Hause mit Kindern anfällt – nutzt diese Chance, schreibt sämtliche Punkte gemeinsam auf und verteilt sie neu. Und dann: Drückt mindestens ein Auge zu, wenn er die Dinge nicht genauso erledigt wie ihr. Es ist nur Hausarbeit, keine lebensrettende Herz-OP.
Und, Väter, nicht vergessen: Ihr seid auch ein Teil des Haushalts, mehr noch, ihr wohnt da! Also bitte nicht nur Einkaufslisten schreiben lassen und damit loszuckeln, sondern selbst überlegen, was fehlt, und mitplanen.
Ja stimmt, das ist oft ungewohnt. Denn die Ursprünge der ungerechten Arbeitsteilung liegen meist schon vor der Geburt. Und deshalb:

Liebe Geburtsvorbereiterinnen, Freunde mit älteren Kindern, Familienbildungsstätten, sprecht nicht nur darüber, wie man Wehen richtig veratmet oder Trotzanfälle managt.

Sondern thematisiert auch die Arbeitsteilung im Familienalltag. Die Weichen werden jetzt gestellt – und zwar für sehr viele Jahre. Sensibilisiert junge Eltern dafür, dass sie in der Elternzeit schneller in alte Rollenmuster rutschen, als das Kind laufen lernt. Auch dann, wenn sie ihr Leben vorher gleichberechtigt organisiert haben und eigentlich ein anderes Modell im Kopf hatten. Denn immer noch wird der Hauptteil der Elternzeit von Frauen genommen, die sich in dieser Phase für alles rund um Kind und Haushalt zuständig fühlen, die das nach der Rückkehr in den Beruf beibehalten – und in Krisen wie diesen sowieso. Daraus ergibt sich die nächste Forderung:

Liebe Familienministerin, schaffen Sie den Rahmen für eine gerechte Elternzeit!

Was spricht dagegen, die Elternzeit anders zu fördern? Man könnte die Vätermonate aufstocken. Oder Paare besonders unterstützen, die ihre Elternmonate möglichst gleichberechtigt aufteilen. Also zum Beispiel sieben Monate für Mama und sieben für Papa. Und nicht zwölf plus zwei Mo­nate, wie jetzt weit verbreitet. Solange Väter in „ihren“ zwei Monaten mit der Familie Urlaub machen, anstatt den Alltag mit Kind kennenzulernen, ändert sich wenig an der häuslichen Arbeitsteilung.
Männer können kein Homeoffice? Doch! Umfragen zeigen sogar, dass Männer es oft besser hinkriegen als Frauen. Der Grund: Sie lassen sich weniger ablenken und blenden Nebenschauplätze – ­ Geschirrspüler, Wäsche- berge, Kinderzimmerchaos – einfach aus.

Klar, die meisten Frauen wollen gerade am Anfang viel Zeit mit dem Baby verbringen, nichts ist daran verkehrt. Aber vielleicht möchten auch mehr Männer ihr Kind besser kennenlernen und im Job eine längere Pause einlegen? Das ist weder in unserer Gesellschaft noch von Arbeitgebern so stark akzeptiert wie bei Frauen, das muss sich ändern. Ein gesetzlicher Rahmen wäre ein guter Anfang.
Natürlich wissen wir es: Dass Frauen nach der Geburt länger und häufiger aus dem Job aussteigen, liegt auch am Geld. Sie haben weniger zu verlieren. Denn sie verdienen meist schon vor der Schwangerschaft weniger als Männer. Das hängt zum einen mit der höchst ­unfairen, geringeren Vergütung für gleichwertige Tätigkeiten zusammen – aber auch mit unserer Vorliebe für schlechter bezahlte „Frauenberufe“ in Pflege, Erziehung und Service.
Immerhin: Wie wichtig, systemrelevant gar!, diese Arbeit ist, wurde in der Corona-Krise endlich deutlich.

Liebe alle, Klatschen ist schön, aber jetzt wollen wir auch Kohle sehen.

Denn nur so sieht Wertschätzung aus, Applaus und einmalige Bonuszahlungen reichen nicht! Unsere Care-Arbeit muss dauerhaft besser bezahlt werden.
Vielleicht brauchen wir eine Männerquote in Frauenberufen – denn die traurige Wahrheit lautet auch: Wo viele Männer arbeiten, wird meist mehr gezahlt – für sie wird Arbeit oft erst attraktiv, wenn das Gehalt stimmt. Mit einer Lohnanhebung könnten wir also gleich noch den Fachkräftemangel in der Care-Branche beheben.
Und übrigens: Es gibt noch einen wichtigen Faktor, der schuld daran ist, dass Frauen noch zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes 61 Prozent weniger Gehalt haben als vorher. Wir Mütter in Deutschland sind europaweit ganz vorn bei der Teilzeit-Arbeit. Dadurch haben wir kaum Aufstiegsmöglichkeiten und verdienen auch langfristig weniger, von unseren geringen Renten ganz zu schweigen. Nicht gut! Und deshalb:

Liebe Chefs, denkt die Arbeitswelt neu!

Es kann doch nicht sein, dass viele Mütter immer noch trotz langjähriger Ausbildung oder sogar Studium jahrzehntelang in der Teilzeitfalle vor sich hin dümpeln, während Väter Überstunden schrubben und keine Zeit für die Familie haben. Die Krise hat gezeigt, dass unsere männliche Präsenzkultur überholt ist. Niemand muss ununterbrochen am Platz sein, und an wichtigen Konferenzen kann man auch per Video teilnehmen. Könnten Väter auch nach Corona öfter zu Hause arbeiten, wären Mütter an diesen Tagen im Job flexibler. Liebe Arbeitgeber, öffnet euch auch langfristig für neue Modelle wie Homeoffice, ­Videokonferenzen und Job-Sharing für beide ­Geschlechter!
Zwei Vollzeitjobs plus täglich zehn Stunden Kita? Wollen viele von uns nicht. Aber zweimal 30 Stunden mit Homeoffice-Option: Das könnte auch mit kleinen Kindern klappen. Bis es so weit ist, gilt:

Liebe Steuerklassen-Pragmatiker, helft mit, das Familieneinkommen fairer aufzuteilen!

Immer noch wählen Paare mit Kindern häufig Steuerklasse 3 für den Hauptverdiener und Klasse 5 für den Zuverdiener, denn bei ungleichem Verdienst bleibt so am Monatsende mehr übrig. Allerdings landen meist Mütter in der schlechteren Steuerklasse, sodass sie mehr Abzüge haben. Das Ehegattensplitting degradiert sie so zu Zuverdienerinnen und trichtert ihnen ein: „Arbeiten lohnt sich nicht: Das, was du einnimmst, gibst du für die Kinderbetreuung wieder aus.“
Die 77-Tage-Lücke: Am 17. März ist Equal Pay Day – ein symbolisches Datum, das die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern markiert: Genau 77 Tage eines Jahres arbeiten Frauen sozusagen umsonst. Denn: Sie verdienen immer noch rund 20 Prozent weniger als Männer in vergleich­baren Positionen. Das zeigen die Daten des Statistischen Bundesamts. Wenn Frauen Kinder bekommen, wird die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, der Gender Pay Gap, sehr schnell noch größer.
Das niedrige Netto macht etwas mit unserem Selbstwertgefühl – mal abgesehen davon, dass es sich auch finanziell auswirkt: etwa auf die Berechnung des Elterngeldes, wenn das nächste Kind kommt. Und natürlich auf die gesetzliche Rente. Wir müssen uns alle klarmachen, dass der Laden ohne die unbezahlte Mehrarbeit von uns Müttern nicht laufen würde. Väter, ihr habt auch deshalb mehr Geld auf dem Konto, weil ihr die gute Steuerklasse habt – auf Kosten von uns Frauen. Deshalb rollt nicht mit den Augen oder behauptet, es lande ja doch alles in einem Topf, wenn wir mit euch über unseren Anteil an eurem Mehrverdienst sprechen wollen – um zum Beispiel eine zusätzliche private Altersabsicherung aufzubauen.

Liebe Mütter, bleibt hartnäckig, wehrt euch und seid stolz! Gerade jetzt.

Ihr seid die Heldinnen, die Corona-Managerinnen, die Trümmerfrauen der Krise. Eure Leistungen der letzten Monate hat euch für jede Führungsposition qualifiziert! Ihr seid keine Arbeitnehmerinnen zweiter Klasse, weil ihr Kinder habt, im Gegenteil. Ihr besitzt Zusatzqualifikationen wie Organisationstalent, Weitblick und Krisenmanagement, darüber hinaus seid ihr extrem belastbar. Verkauft euch nicht unter Wert, hört auf, euch allein für die Entwicklung und die Noten eurer Kinder oder den Zustand der Wohnung verantwortlich zu fühlen. Fallt nicht in alte Rollenmuster zurück – es sei denn, es gefällt euch und ihr seid wirklich glücklich damit. Jetzt. Und hoffentlich auch noch in 20 Jahren.