Woher kommt die neue Lust zur Selbstkasteiung?

von Jens Lönneker

Selbstkasteiung

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Woher kommt die neue Lust zur Selbstkasteiung?

von Jens Lönneker

Viele beklagen die aktuellen Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Es lässt sich aber auch eine neue gesellschaftliche Lust an Härte und Selbstkasteiung beobachten. Diese verhindert jedoch den Blick auf erfolgreiche, alternative Konzepte.

Viel wurde in den letzten Monaten über die Corona-Einschränkungen geklagt, sogar von Unterdrückung gesprochen. Nun möchten aber plötzlich 32 Prozent der Deutschen (laut ARD-DeutschlandTrend vom 7.01.2021) die aktuellen Lockdown- Maßnahmen noch verschärfen. Und 47 Prozent wollen zumindest den aktuellen Full-Lockdown mit seinen Einschränkungen beibehalten. Lockern wollen nur 18 Prozent. Für fast ein Drittel der Deutschen sind also die aktuellen Beschränkungen nicht mehr ausreichend. Sie wollen es gerne noch härter. Die neue, noch ansteckendere Mutation des Corona-Virus hat sicherlich zu diesem Stimmungswandel beigetragen. In unseren Interviews war der Trend aber bereits im November und Dezember zu beobachten. Entsteht in Deutschland entsteht einer neuer Hang zur Selbstkasteiung?

Der Strengste wird König

Die Forderung nach mehr Härte geht einher mit Schilderungen von Begebenheiten, bei denen sich Menschen nicht an die Abstands- und Kontaktregeln halten. Beschuldigt werden vor allem zwei Gruppen: Die Älteren und die Jungen. Ein typisches Zitat aus einer Befragung: „Die Schlimmste ist meine Schwiegermutter, sie hält die Angst vor Corona für übertrieben und daher die Abstandsregeln nirgendwo richtig ein.“ Oft schwingt dabei ein Unterton mit, nach dem es für „die Alten“ einfacher sei, so leichtsinnig zu sein, weil diese „ihr Leben schon gelebt“ haben.

Und dann natürlich die Jungen: Es wird behauptet, sie nehmen das Ganze nicht ernst genug und fahren etwa in Gruppen zum Rodeln oder rauchen gemeinsam Shisha. Es steckt auch ein Quentchen Neid darin, dass sich Menschen das Leben trotz Corona angenehm machen. Und dies obwohl das Corona-Virus nicht verschwindet, sondern die Infektionszahlen trotz Lockdown vielerorts weiter steigen. Das legt härtere Maßnahmen nahe.

Die Lust an der Härte

Aus der konsequenten Haltung wird nun aber im öffentlichen Meinungsbild ein Überbietungswettbewerb, bei dem zur eigenen Profilierung immer weitergehende, strengere Maßnahmen gefordert werden und gleichzeitig ganze Gruppen pauschal als „verantwortungslos“ an den Pranger gestellt werden: Arbeitgeber ermöglichen zu wenig Home Office, Pflegekräfte lassen sich nicht genügend impfen, Politiker treffen die falschen Entscheidungen, Europäer handeln inkompetenter als Asiaten und so weiter. In jedem Fall ist es gut, noch mehr Härte, strengere Maßnahmen zu verlangen.
Psychoanalytisch lässt sich dieser Überbietungswettbewerb als eine Transformation ansehen. Der Lust am laxeren Umgang wird ein Riegel vorgeschoben und mehr Konsequenz und Härte verlangt. Aber nicht nur das: Die Lust wird zugleich auch verwandelt in die insgeheime Freude daran, sich als Held der Disziplin und Selbstkasteiung für eine größere Sache abzufeiern, und zwar indem das Verhalten anderer angeprangert wird.

Es gibt historische Vorbilder, die aufzeigen, dass diese Lust am Anprangern und Einschränken zur gesellschaftlichen Sucht werden kann. Ob unter Calvin und seiner ultrastrengen Gemeindeordnung in Genf oder unter den Nazis in Deutschland: Je weniger sich gegen den inneren oder äußeren Feind ausrichten lässt, umso höher die Bereitschaft zu maßregeln, um wieder Wirkmächtigkeit zu erfahren. Die Strenge wird dann zu einer Ersatzhandlung für die erfahrene Ohnmacht.

Die Strenge bietet dabei zugleich auch einen sekundären Lustgewinn, der mit Realitätsbewältigung nichts mehr zu tun haben muss: Der Strengste ist der König in der öffentlichen Meinungsbildung. So gilt der gerne mehr Härte einfordernde Bayrische Ministerpräsident Söder bei den Wählern als der aussichtsreichste Kanzlerkandidat der Union, obwohl die Fakten Bayern nicht unbedingt als Vorzeigestaat in Sachen Pandemiebewältigung ausweisen.

Alternativen betrachten, statt Strenge zu fordern

Strenge kann dann zugleich auch ein Indiz dafür sein, dass die angewandten Methoden nicht richtig greifen. Die Hoffnung ist, dass man die vertrauten Methoden und Muster nicht ändern sondern nur strenger anwenden muss. Es könnte aber hilfreicher sein, sich erfolgreichere Methoden – etwa aus Asien oder Israel anzusehen, um sie zu kopieren und gegebenenfalls zu modifizieren, bis sie passen: Ist die größere Konsequenz im Umgang mit einem lokalen Corona-Ausbruch in Asien wirklich immer undemokratisch oder den individualisierten westlichen Gesellschaften nicht zu vermitteln? Neuseeland scheint ein Gegenbeispiel zu sein. Wieso verläuft die Impfung in Israel viel schneller als in Europa? Wie lassen sich die Vorteile der stärkeren Digitalisierung des Gesundheitswesens in Israel hier eventuell nutzen? Was kann man übernehmen? Steel with pride!

Der verengte Blick eines Überbietungswettbewerbs der Strenge lässt keinen Raum für solche Perspektiven und zwingt die Verantwortlichen vielmehr in eine Verteidigungshaltung mit gleichzeitigen Forderungen nach noch härteren Maßnahmen. Kritiker werden pauschal in die Ecke von „Querdenkern und Covidioten“ gerückt.
Dies gilt auch für andere Felder, in denen strenge Regulationen schnell naheliegen: Ob Alkoholkonsum, Werbung, Urlaubsreisen, Autofahren – lustvolle Verhaltensweisen lassen sich nicht dauerhaft „untersagen“. Sie lassen sich nur modifizieren und in andere Formen transformieren. Die Forderung nach größerer Strenge sollte daher immer auch ein Indikator dafür sein, nach offeneren, spielerischen, perspektivenreichen Methoden zu suchen, um sinnvolle Ziele zu erreichen. Strenge und Härte sind meist nur die „zweitbeste“ und keine gute Lösung.

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Der Artikel erschien ebenfalls in der planung&analyse.