Ein Interview mit Ines Imdahl in der Süddeutsche Zeitung vom 9. März 2020
Psychologin Ines Imdahl über die süchtig machende Kombination aus Narzissmus und Exhibitionismus auf Instagram und die existenzielle Sehnsucht von Jugendlichen nach Sicherheit und Kontrolle – gerade in unruhigen Zeiten
Interview: Fabian Müller
Die Haare sind gestylt, der Hintergrund leuchtet, die Haut schimmert, die Pose ist verführerisch. Nicht nur Instagram wird zunehmend zur Bühne von zur Schau gestellter Koketterie. Psychologin Ines Imdahl ist Geschäftsführerin des Marktforschungsinstituts rheingold salon und hat im Auftrag des Industrieverbands Körperpflege und Waschmittel bereits mehrere Jugendstudien zu diesem Thema durchgeführt.
Frau Imdahl, warum sehnen sich gerade Jugendliche nach so vielen Likes wie möglich?
Dazu muss ich ausholen.
Nur zu.
Zunächst einmal spielen bei jungen Menschen die Hormone verrückt, und sie haben gleichzeitig das Gefühl, dass die familiäre wie auch die gesellschaftliche Situation außer Kontrolle geraten ist. Jugendliche sehen in ihren oder in anderen Familien, dass Beziehungen in die Brüche gehen, jede zweite Ehe in Deutschland wird geschieden. Sie haben das Gefühl, überall in der Welt explodiert gerade etwas. Und vor allem haben sie das Gefühl, sie können daran nichts ändern. Sie erleben also einen Kontrollverlust auf mehreren Ebenen, nur auf einer können sie die Kontrolle wiedererlangen: der körperlichen Ebene. Jugendliche schminken sich also, stylen die Haare und nutzen Kosmetik.
Was hat all das mit Likes zu tun?
Im Grunde möchten sie über den perfekt kontrollierten Körper und den perfekt kontrollierten Auftritt zeigen, dass sie ihr Leben im Griff haben. Dafür möchten sie Anerkennung. Sie schießen Selfies, nutzen Filter, posten diese Bilder und schauen dann, ob es genügend Likes gibt. Wenn das funktioniert, speichern sie das positiv ab. Wenn nicht, wird es online wieder gelöscht.
Viele Likes bedeuten also Anerkennung?
Das wäre verkürzt. Ein Like bedeutet die Befriedigung von mindestens zwei Trieben, dem narzisstischen und dem exhibitionistischen. Eine Kombination, die in der klinischen Psychologie früher getrennt war. Narzissmus gilt als schwere Störung, Betroffene lieben nur sich selbst und sind kaum in der Lage, andere zu lieben. Die zweite Komponente, der Exhibitionismus, war bei Frauen schon immer akzeptierter als bei Männern. Die Frauen sagen, sie zeigen auf freizügigen Fotos nichts, was sie am Strand nicht auch zeigen würden. Sie tragen Bikinis, Unterwäsche, Sportklamotten, das alles in verführerischen bis devoten Posen. Die Anerkennung ist dann das, was als Suchtfaktor hinzukommt.
Sie sprechen von Sucht?
Die ewige Steigerung – mehr Likes, mehr Follower – führt zu einem Kick und dementsprechend zu einer Abhängigkeit. Das geben viele Jugendliche auch offen zu. Es geht dabei nicht nur um Follower und Herzchen, die Jugendlichen sind fast alle mindestens vier Stunden auf Instagram, manche sogar bis zu neun.
Ist das noch gesund?
Als Psychologen beobachten wir vor allem neue Trends, machen darauf aufmerksam und zeigen, was sie bedeuten. Ich persönlich sehe diese Sucht schon kritisch.
Verändert sich die Selbstwahrnehmung der Jugendlichen?
Jugendliche glauben nun, über die Likes mehr wert zu sein. Sie können gleichzeitig aber kaum mithalten mit dem Perfektionismus, die sozialen Medien machen sie unglücklich. Zugeben tun es die meisten aber nicht.
Laut Studien sind Jungen weniger anfällig. Woran liegt das?
Sie haben nicht den gleichen Perfektionsdruck wie Mädchen. Mädchen müssen gut aussehen und benutzen dafür manchmal sogar optische Filter. Umgekehrt denken sie – und das ist sicher der Faktor, der sie unglücklicher macht – sie müssen im realen Leben so aussehen, wie sie es mit den Filtern tun. Das ist eine Wahrnehmungsverzerrung, die auf Dauer sehr, sehr gefährlich ist.
In den sozialen Medien gibt es immer wieder Kritik, viele Influencer würden nur über Nacktheit Likes generieren. Wie erklärt sich diese „Taktik“?
Die Generation der heute 60 bis 70-Jährigen fand es schlimm, für die Optik gemocht zu werden. Da war das Motto: Du darfst niemals jemanden nach dem Äußeren bewerten. Die Jugendlichen heute sagen zu 70 Prozent, sie können am Äußeren den Charakter eines Menschen erkennen.
„Der Perfektionsdruck ist extrem, nichts Hässliches oder Unkontrollierbares soll auf den Fotos zu sehen sein.“
Im Grunde sagen sie damit, wenn jemand gepflegt ist, einen definierten Körper hat, die Filter richtig benutzt, dann teilt diese Person meine Werte nämlich: Kontrolle über das Leben.
Gibt es dafür eine psychologische Erklärung?
Die schon erwähnte süchtig-machende Kombination aus Narzissmus und Exhibitionismus. Das merkt man auch schnell selber: Wenn man ein Foto veröffentlicht, auf dem man ein körperbetonteres Kleid trägt, bekommt man ganz andere Reaktionen als ein normales Foto bekommen würde. Die gestiegene Aufmerksamkeit fördert die Sucht nach Likes weiter.
Immer wieder gibt es die Forderung, die Funktion der Likes abzuschaffen. Wie würde ein soziales Netzwerk dann funktionieren?
Nicht gut. Ein Großteil des Lustgewinns, den die Nutzer daraus ziehen, würde kaputt gehen. Es gäbe zwar weiterhin die Funktion des Folgens, die Dynamik der Kommentare und vor allem der Likes ist aber zentraler, das ist auch das, was von Influencern monetarisiert wird.
Täuscht der Eindruck, Jugendliche ziehen sich freizügiger an als noch vor Jahren?
Junge Frauen schämen sich heute nicht mehr dafür, sich freizügig zu zeigen. Sie zeigen damit: Alles geht den Bach unter, aber ich habe meinen Körper im Griff. Diese Äußerlichkeit ist ein Zeichen dafür, Jugendliche zeigen das heute manchmal eben etwas mehr. Es geht dabei weniger um Sexualität, sondern eher darum, dass der Körper Ausdruck der Persönlichkeit ist und ein Zeichen der Sicherheit und Kontrolle. Problematischer finde ich, dass heute viel früher über Operationen nachgedacht wird.
Und das hängt unter anderem mit Instagram zusammen?
Ja, man will sich den Filtern anpassen, so perfekt sein wie möglich. Der Perfektionsdruck ist extrem, nichts Hässliches oder Unkontrollierbares soll auf den Fotos zu sehen sein.
Gibt es weitere Beispiele für Auswirkungen auf die Gesellschaft?
Klar, die gibt es. Vor 20 Jahren wollten 14 Prozent der Jugendlichen berühmt werden, heute sind es 30 Prozent, mehr als das Doppelte. Viele geben an, Influencer werden zu wollen, gerne auch Topmodel.
Ist der Ruhm der Teenie-Idole vergangener Tage anders als der heutige?
Früher gab es einen größeren Abstand zu den Idolen. Sie standen auf einem Podest, waren Stars. Heute geht es darum, nahbar und vor allem anfassbar zu sein. Also gibt es an jeder Ecke ein Meet and Greet.
Warum nutzen die Jugendlichen hauptsächlich solche Foren?
In anderen sozialen Netzwerken wie Facebook geht es auch um Hass, Politik, um Fieses, um Tiefgründiges, also um ernste Dinge. Das wollen die Jugendlichen nicht. Sie wollen die parallele heile Welt, in der alles gut ist.
Was unterscheidet die aktuelle Generation der Jugendlichen von der vorhergegangenen?
Vor zehn, 15 Jahren ging es um Entgrenzung. Diese Generation hat den Kontrollverlust gesucht, sie wollte wissen, ob und wie man rebellieren kann, Stichwort Komasaufen. Heute geht es darum, die Kontrolle zu wahren. Jugendliche trinken deutlich weniger, rauchen deutlich weniger. Es gibt eine tiefe existentielle Sehnsucht nach Sicherheit.
Vieles wird geteilt, auch die privatesten Momente. Verschwimmt die Grenze zwischen Persönlichem und Öffentlichem?
Wirklich Privates wäre, wenn die Mutter krank ist, wenn das Baby mal schreit oder man Streit mit dem Freund hat. Die veröffentlichten Fotos wirken vermeintlich privat, das ist aber standardisiert und zeigt fast nur Schönes. Also den Urlaub, Weihnachten, die Hochzeit, die ersten Schritte des Kindes – nur die guten Seiten des Lebens. Wenn ihnen dann etwas nicht mehr gefällt, löschen sie es einfach. Jugendliche zeigen nur das von sich, was sie als positiv empfinden.
Was raten Sie Eltern, die ein Problem damit haben, wenn sich die Tochter schminkt oder bauchfrei in die Schule geht?
Eltern müssen verstehen, dass das für ihre Kinder keine Oberflächlichkeit ist. Sie bearbeiten damit eine innere Problematik. Wenn sie ihre Nägel lackieren und sich Pickel überschminken, haben sie zumindest das in den Griff bekommen. Wenn Eltern verstehen, dass das Ausdruck einer existenziellen Not ist, sind sie einen großen Schritt weiter.
Und was empfehlen Sie den Eltern für den Umgang ihrer Kinder und Jugendlichen mit sozialen Medien?
Es ist wichtig, dass es Regeln gibt. Die Gesellschaft hat für soziale Medien keine Maßgaben wie es sie beispielsweise beim Alkohol oder Taschengeld gibt. Es gibt einfach keine Richtlinien, die besagen, bis hier ist es gesund, dann nicht mehr. Alles was Suchtpotenzial hat, braucht Maße, an die man sich halten kann. Sie werden täglich Streit haben mit ihren Kindern. In der Psychologie geht es immer um den Kampf um die Regel. Das Entscheidende ist, nicht aufzugeben.
Und wie handhaben Sie das mit Ihrer Familie?
Ich habe vier Kinder. Meine Zwölfjährige hat ein Smartphone, darf das aber nicht mit in die Schule nehmen. Aber natürlich hat die das schon versucht. Dann ist es eben erstmal weg. Je häufiger das passiert, desto länger ist das Handy dann bei mir. Bei unseren Kindergeburtstagen sammle ich die Dinger alle ein. Das finden die Gäste zwar komisch, aber die brauchen sich doch auch nicht zu treffen, wenn sie alle nur auf das Display starren.