„Jeder Vierte glaubt im Grunde nicht mehr an dieses System“

von Jens Lönneker

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„Jeder Vierte glaubt im Grunde nicht mehr an dieses System“

von Jens Lönneker

Jens Lönneker hat sich mit Medienkritikern tiefenpsychologisch auseinandergesetzt. Er kam zu alarmierenden Erkenntnissen – fand aber auch Wege, um Vertrauen zurückzugewinnen. Zumindest teilweise.

Dieses Interview mit Jens Lönneker erschien am 24.12.2023 auf wiwo.de.

WirtschaftsWoche: Herr Lönneker, Sie haben tiefenpsychologische Gespräche mit Medienkritikern geführt. Was war der Auslöser?
Jens Lönneker: Das Umfeld für Journalisten in Deutschland wird immer schwieriger. Im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen ist Deutschland inzwischen sogar aus den Top 20 geflogen – auch, weil es Angriffe auf Journalisten gab. Die Stiftervereinigung der Presse wollte dem auf den Grund gehen, die Motive derjenigen nachvollziehen, die sich so gegen die Presse auflehnen. So bin ich ins Spiel gekommen.

Sie haben kürzlich gesagt, das sei die „wichtigste Studie“, die Sie je gemacht hätten. Warum?
Weil ich nach ihrer Durchführung das Gefühl habe: Da ist Holland in Not. Diese Studie ist ein Alarmsignal. Sie zeigt, dass wir ein Viertel der Bevölkerung verloren haben. Jeder vierte Deutsche ist medienavers, und der überwiegende Teil dieser Menschen glaubt im Grunde nicht mehr an dieses System, fühlt sich von der Politik allein gelassen. Und dann ist der logische nächste Schritt der, die Demokratie in Frage zu stellen. Selbst wenn diese Leute sagen, dass sie Demokraten sind, sind sie anfällig für Menschen, die unter dem Vorwand der Systemkritik völlig andere Absichten haben. Diese Studie hat das in einer großen Klarheit herausarbeiten können. In den Einzelinterviews, die wir geführt haben, bekam all das eine große Wucht.

Sie haben insgesamt mit 60 Menschen tiefenpsychologische Gespräche geführt. Was genau kann man sich unter einem solchen tiefenpsychologischen Interview eigentlich vorstellen?
Gemeint ist, dass jemand, der eine psychologische Ausbildung hat, mit Explorationstechniken agiert. Wir sind darauf trainiert, Reizthemen zu verstehen, sie auch aufzugreifen, aber sich dabei nicht selbst emotional bewegen zu lassen. Das Gegenüber weitererzählen zu lassen, nach dem Danach zu fragen, um weiter in die Vertiefung zu kommen. Um zu ergründen: Was motiviert die Position meines Gegenübers? Was genau sind die Hintergründe?

Ein Begriff, den Sie in Ihrer Studie verwenden, lautet Rationalisierung. Gemeint ist damit, dass Medienkritiker hintergründige Motivationen hinter provokanten Aussagen verstecken, richtig?
Ja, genau. Mit der Rationalisierung ist es so, frei nach Freud: Wir sind in der Lage, Beweggründe, die uns vielleicht gar nicht so zugänglich sind, rational zu covern. Das kann bewusst passieren oder unbewusst. Ich könnte Ihnen jetzt von 60 unterschiedlichen Profilen und Geschichten erzählen, die dann zusammen ein Bild ergeben.

Was die Profile eint: dass bestimmte Reizthemen nach vorn geholt werden, um sich Gehör zu verschaffen?
Richtig. Ich hatte sogar überlegt, ob es hier nicht mehr Sinn macht, statt von einer Rationalisierung von einer „Reizionalisierung“ zu sprechen. Weil Rationalisierung ja eigentlich den Effekt hat, dass man eine vernünftige Begründung für sein Verhalten entwickelt. Das Interessante bei den Rationalisierungen, die sich in meinen Interviews gezeigt haben, ist aber, dass sie erst einmal gar nicht so vernünftig scheinen – zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung. Sie werden dann sinnvoll, wenn man versteht, dass diese Menschen das Gefühl haben, dass sie kein Gehör mehr in der Gesellschaft finden. Dass sie sich eben Gehör verschaffen wollen. Und dann finden sie Reizthemen, die sicherstellen, dass man ihnen zuhört. Nur dann leider in einer negativen Form. Worin sie wiederum ihr Gefühl der Ablehnung bestätigt sehen. Das ist fatal – ein Teufelskreis.

Wie kommt man nun gegen diese Art von Rationalisierung an? Mit rationalen Gegenargumenten?
Das genau nicht. Die kriegen sie nicht rational wegargumentiert. Und das ist auch so ein bisschen die Krux: Gute journalistische Arbeit besteht ja auch darin, hinzugehen und aufzuklären. Faktencheck ist ja auch so ein Wort, das heute sehr in Mode ist. Das war eine Reaktion vieler seriöser Medien, als Verschwörungstheorien aufkamen. Es zeigte sich aber rasch, dass diese ganze Faktenorientierung überhaupt nicht dagegen half. Verschwörungstheoretiker haben dann die obskursten Konstruktionen entwickelt, um diese Fakten wiederum zu entkräften. Was wiederum ein klarer Hinweis darauf ist, dass die eigentlichen Motivationen für ihre Grundhaltungen woanders liegen.

Was also stattdessen tun?
Ganz zentral ist: den Menschen zuhören, statt sie belehren zu wollen. Statt Konfrontationen zu suchen, die am Ende nur die gegenwärtigen Positionen bestätigen. Die einen fühlen sich wieder gebasht, und die anderen nicken. Entscheidend war es für diese Studie, auch manche Tirade, gegen die man instinktiv argumentieren will, auszuhalten. Und dann zu sehen, was eigentlich im Weiteren dahinter zu finden ist.

Wie nun lässt sich dieses tiefenpsychologische Moment in die journalistische Praxis integrieren? Ganz praktisch gedacht.
Klar, Journalisten haben derzeit nicht die Ressourcen, jedem, dem sie begegnen, tiefenpsychologisch auf den Grund zu gehen. Und auch nicht das nötige Handwerkszeug. An letzterem aber lässt sich arbeiten. Diesbezüglich bin ich auch bereits in Gesprächen mit mehreren Verlagen und Verbänden. Warum sollte man nicht als Teil der journalistischen Ausbildung auch ein paar dieser Gesprächsführungsskills, die die Psychologie entwickelt hat, integrieren? Wenn Journalisten dieses Rüstzeug haben, können sie tiefere Gespräche führen, sich selbst besser hinterfragen. Das kann man ja lernen, das kann man auch beibringen. Und das kann auch zu einer größeren Informationserkenntnis für die Medien führen. Den Journalismus in Deutschland generell besser machen.

Dennoch: Das ist natürlich im Redaktionsalltag relativ schwierig. Was könnte ein erster Schritt sein, um die Leute abzuholen?
Ich kann Ihnen da auch nicht den Himmel auf Erden versprechen, behaupten: Ich hätte die Lösung. Die Ressourcen sind knapp, ich sehe diese Not. Ich glaube aber, dass schon viel gewonnen sein kann, wenn Sie tatsächlich sich selbst auch ein Stückweit fragen, ob Sie nicht doch ganz schnell in einem Beitrag jemanden nach vorgefertigten Kategorien einordnen. Das ist es ja, was die Leute den Medien vorwerfen: dass Journalisten mit vorgefertigten Einteilungen auf die Leute zugehen und nur noch bestimmte O-Töne suchen, um ihr eigenes Weltbild zu belegen. Da wäre es schon hilfreich, wenn Sie selbst sich da manchmal ermahnen und sagen: Ich stufe Menschen nicht zu schnell ein. Das andere, das erst einmal fremd und seltsam zu sein scheint, nicht direkt verurteilen. Sich stattdessen fragen: Habe ich das wirklich verstanden? Kenne ich die Hintergründe? Generell: Es ist wichtig, Präsenz zu zeigen, wo immer man kann. Um den Leuten das Gefühl zu vermitteln: Ja, wir verstehen euch. Wir setzen uns mit euch auseinander.

In Ihrer Studie unterteilen Sie Medienkritiker in verschiedene Gruppen. Nicht alle davon sind gleich leicht abzuholen, richtig?
Ja, wir haben drei Gruppen unterschieden. Erstens die Medienrückzugsgruppe, die sagt: Ich konsumiere immer weniger. Dann die Medienaggressiven, die sehr hart argumentieren und die Medien stark kritisieren. Und drittens die Medienbasher, die nach wie vor intensiv die klassischen, etablierten Medien mitverfolgen, dabei aber immer eine bashende Haltung einnehmen.

Sie vergleichen das mit einer Beziehung, die man neudeutsch wohl „toxisch“ nennen würde.
Ja, das Verhältnis der Basher zu den Medien ist ein bisschen wie eine Beziehung, die in Schieflage geraten ist. In der man sich gegenseitig nur noch Sachen vorwirft. Aber: Man setzt sich noch mit dem Gegenüber auseinander – wenn auch kritisch. Man ist also noch gar nicht richtig voneinander losgekommen. Nun kann man sagen: Das sollte man lösen, das ist keine gute Beziehung. Oder man betrachtet es eben andersherum, positiv: Diese Beziehung besteht noch. Es lohnt sich vielleicht, daran zu arbeiten.

Und diese Leute würde man Ihrer Meinung nach am ehesten wieder überzeugen können, indem man mit ihnen spricht und sich mit ihnen auseinandersetzt?
Ja. Und was man wirklich sagen muss: Man hat schon den Eindruck, dass es manchmal in dieser Medienlandschaft auch an wirklich profilierten konservativen Stimmen fehlt. Wenn, dann wird direkt überrissen im rechtskonservativen Bereich. Nicht alle von diesen Leuten wollen einen Julian Reichelt oder so. Aber eine klassische, profilierte konservative Stimme, die Gewicht hat und die eine hohe Akzeptanz findet. Das, glaube ich, täte manchmal doch ganz gut.

Ein Mittel gegen die wachsende Medienskepsis in Deutschland sei auch mehr „konstruktiver Journalismus“, schreiben Sie in Ihrer Studie. Was heißt das nun?
Vielen Menschen, die wir befragt haben, fehlt eine positive Perspektive. Durch all diese neuen Medientendenzen, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen durch Suchmaschinenoptimierung und prägnante Überschriften, gibt es umso mehr Beiträge, die tendenziell negativ ausfallen, die alarmieren, die dadurch die Aufmerksamkeit catchen, dass sie etwas skandalisieren, etwas Negatives nach vorne stellen. Dieser Ansatz mag auf kurze Sicht bessere Klickzahlen für Artikel bringen. Auf lange Sicht aber verliert der Journalismus dadurch die Leute insgesamt wieder stärker. Der konstruktive Journalismus dagegen stellt die Frage: Gibt es in diesem ganzen Kontext auch irgendetwas, das eine Lösung aufweist? Irgendetwas, das eine Perspektive bietet?

Die Zeitungen können aber ja kaum nur noch positive Nachrichten drucken, oder?
Nein, das verlangt auch niemand. Aber der ein oder andere konstruktive Beitrag darf zwischendrin doch auch mal dabei sein. Generell: Ich bin Anhänger der Habermasschen Auffassung, dass Medien in der Demokratie eine bestimme vermittelnde Funktion erfüllen. Im Gegensatz zu Feudalgesellschaften, in denen die Führenden von Gott eingesetzt waren, fehlt es der Demokratie grundsätzlich ja erst einmal an Legitimation. Und die kann sie nur erhalten, indem alle das Gefühl haben, dass sie Teil des Ganzen sind. Dass sie mitbestimmen, was hier an Regierung vorhanden ist und wie das Ganze gemacht wird. Und wenn ein großer Teil der Gesellschaft – ein Viertel der deutschen Mitbürger – dieses Gefühl nicht mehr hat, dann haben wir ein Problem. Am Ende geht es schlichtweg darum: Medien müssen den Einzelnen vermitteln, dass sie repräsentiert werden, dass das, was sie machen, interessiert. Erst dann haben sie ihre wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt.