Das von Cyrill Luchsinger auf LinkedIn veröffentlichte Interview mit Ines Imdahl im Wortlaut:
„Wenn Sie wirklich wissen wollen, warum…“
Ines Imdahl ist eine international anerkannte Expertin für tiefenpsychologische Markt- und Medienforschung. Sie wohnt und arbeitet in Köln. Wir haben uns über LinkedIn kennengelernt. Unsere digitalen Wege kreuzten sich im Herbst 2020. Seit der Veröffentlichung ihres Artikels „Purpose und Customer Experience – Vom Sinn der Menschlichkeit“ stehen wir im regelmässigen Austausch.
Die richtigen Impulse, zur richtigen Zeit, mit dem richtigen Gespür: Genau das zeichnet Ines Imdahl aus. Ines hat die Fähigkeit, theoriegeleitet zu denken und umsetzungsorientiert zu handeln. Sie ergründet, was Menschen bewegt und motiviert. Sie gräbt und forscht da, wo andere gar nicht suchen. Sie ordnet ein, relativiert und hat einen unglaublichen Erfahrungsschatz. Und Sie mag es gerne bunt – nicht nur am Karneval.
Mitte Mai 2021 hatte ich die Gelegenheit, mich ausführlich mit Ines zu unterhalten. Ein Gespräch über: Sinn statt Gewinn? Customer Experience statt Brand-Education? Und warum die „Zerstückelung des Zusammenhangs“ eines unserer grössten Probleme ist.
Ines, wer bist du und wie bist du dahin gekommen, wo du jetzt bist?
Seit über 20 Jahren bin ich Unternehmerin. Als Markt- und Medienforscherin habe ich zusammen mit meinem Partner Jens Lönneker vor 10 Jahren noch mal neu gegründet, den rheingold salon. Erschöpfend beantwortet sich die Frage, nach dem „wer ich bin“ aber wohl für den Rest meines Lebens nicht. Denn zum einen habe ich den Anspruch mich immer weiterzuentwickeln. Und zum anderen definiert sich das „Wer“ nicht nur durch den beruflichen Aspekt. Schon zu formulieren, dass ich „neben meiner Tätigkeit als Psychologin und Forscherin“ auch noch vier bezaubernde Kinder habe, fühlt sich seltsam an. Es ist keine Hierarchie, sondern ein Ganzes, das sich gegenseitig beeinflusst. Dazu zählt dann auch der Austausch mit Menschen – wie Dir – die zu der Persönlichkeits-Entwicklung beitragen.
Das „Wie“ impliziert für mich zum einen die Motivation und zum anderen die Art und Weise. Die wohl prägendste Motivation: Ich sollte (lieber) ein Junge werden. Somit habe ich die ersten 25 Jahre meines Lebens vermutlich mit der Beweisführung verbracht, dass ein Mädchen eine mindestens genauso gute Idee ist. Gleichwertigkeit in der Andersartigkeit ist für mich heute das Zentrale. Der zweite Antrieb ist die Frage nach dem „Warum“. In meinem Philosophie Leistungskurs konnte mir von Platon über Kant & Nietzsche auch die Phänomenologie nicht verständlich machen, warum Menschen trotz besseren Wissens rauchen. So habe ich zur Psychologie gefunden.
Meine Art und Weise: Zunächst arbeite ich extrem hart. Immer schon. Es gab wenig „Zu-Fall“ – und dennoch bin ich hoffentlich noch demütig genug zu sehen, wie oft ich Glück in meinem Leben hatte. Ausserdem fälle ich – fast zu – schnell konsequente Entscheidungen. Nach einer kurzen Anstellung in einer kleinen Unternehmensberatung habe ich begriffen, dass ich „unführbar“ bin. Das war eine damals schmerzliche Erfahrung. Gerade aus diesen Erfahrungen jedoch, versuche ich konsequent zu lernen. Ich habe mich also nie wieder „an-gestellt“ – im doppelten Sinne des Wortes. Zwischen-Ziele, die ich mir setze, versuche ich oft mit Hochdruck zu erreichen – für andere, aber manchmal auch für mich selbst kocht da der Kessel auch mal über. Letztlich gehört es aber zu meiner persönlichen „Erfolgsformel“.
Du stehst hin und stellst Fragen wie: Warum ist grüner plötzlich besser? Haben Marken noch einen Sinn? Wie reagiert die Community auf dich?
Solche Fragen sind Kern meiner Tätigkeit. In den 30 Jahren, die ich schon forschen darf, gab es immer wieder neue Themen auf die sich Unternehmen, Menschen und Medien «stürzten». Die morphologische Psychologie geht davon aus, dass solche Schwerpunkt-Veränderungen immer einen Sinn haben. Also fragt sie – und ich mit ihr – „Warum ist das so?“
Glücklicherweise gibt es Unternehmen, die mich und natürlich den rheingold salon dafür bezahlen, solche Fragen zu stellen und zu beantworten. Das erlebe ich als Geschenk. Zwar polarisieren meine Direktheit und Deutlichkeit auch, aber die Wertschätzung überwiegt. Einer der schönsten Empfehlungssätze war „sie ist schonungslos kreativ“. (Karen Heumann)
Und warum grüner plötzlich besser ist, ist eine der spannenden Fragen unserer Zeit. Dabei Klimaschutz ist ja eigentlich kein neues Thema – aber nun Hype. (Anmerkung: Ines Imdahl findet Klimaschutz überlebenswichtig!) Man könnte denken, die Menschen seien endlich aufgeklärt. Oder die Unternehmen tugendhafter und besser. Das sind aber nicht die Gründe. Dies den Unternehmen zu sagen, ist Teil meiner Schonungslosigkeit.
Denn Menschen handeln nicht rational. Aufklärung verändert kaum je Verhalten. Das bereits zitierte Rauch-Beispiel zeigt es deutlich. Hier sind alle vollends aufgeklärt und rauchen trotzdem weiter. Fast 60 Prozent der Menschen, die im Discount Billig-Fleisch kaufen, sind gegen Massentierhaltung. Mind-Set verändert das Verhalten also offenbar auch nicht. Mich interessieren deshalb immer die tieferliegenden, psychologischen Gründe – und daraus für die Unternehmen eine spannende und sinnstiftende Lösung zu generieren.
Warum suchen Unternehmen und Marken denn Sinn? Warum gerade jetzt?
Viele Menschen erkennen in ihrer Tätigkeit kaum noch Sinn. Denn das Streben nach Wachstum und Gewinn sind kein Purpose. Ergo ist das unangefochtene Wachstum-Credo der Neunzigerjahre in Umbruch geraten. Die Unternehmen und Marken stehen aktuell vor einer grossen Sinn-Entleerung. Denn kein Unternehmen ist auf der Welt, um zu wachsen. Wirtschaftliches Handeln ist Unternehmensgrundlage, aber kein Unternehmens-Sinn.
Dabei lag jeder Unternehmensgründung einmal etwas zugrunde, eine Kernidee, ein Mehrwert, ein Problem sollte gelöst werden – und zwar ein menschliches. Diese Idee haben viele vergessen. Wie und in welchem Dienste des Kunden wollten sie unterwegs sein?
Die austauschbare, Controlling getriebene Fokussierung auf Gewinn und Einsparungen ist allerdings der Grund, warum auch Menschen innerhalb der Unternehmen zunehmend nach einem Purpose rufen. Sie fühlen sich ausgelaugt vom ewigen Hamsterrad. Sie sind müde davon, immer nur mehr desselben zu produzieren: 20 Konzepte und fünf Innovationen pro Jahr. Die persönliche Entwicklung dabei? Mehr Geld, mehr Macht, eventuell in der Hierarchie nach oben zu gelangen? Kein Wunder, dass ein Unternehmenswechsel alle zwei Jahre bei vielen Mitarbeitern üblich geworden ist. Kaum jemand hängt an einer Marke, für die er arbeitet. Die Verbundenheit zum Unternehmen ist oft aufgesetzt.
Corona verstärkt die bereits lange angelegte Sehnsucht nach mehr Sinn und weniger Gewinn. Wir konnten im Lock-Down Luft holen, durchatmen und hatten Zeit zu fragen, was wir wirklich wollen. Die Jugend will zum Teil ganz raus aus dem ewigen mehr des Konsumierens. „Fridays for future“ proklamieren gar: „Kaufen ist schlecht“.
Was liegt näher, als sich Klimaschutz oder Nachhaltigkeit als Sinn-Rettungs-Anker auf die Fahnen zu schreiben? Aber auch das gibt dem Unternehmen noch keine Existenz-Berechtigung. Aus psychologischer Sicht ist auch das kein Purpose. Ethische Grundausrichtungen wie die Nachhaltigkeit von Unternehmen sind eine Existenz-Verpflichtung. Ohne kann und darf heute kein Unternehmen mehr wirtschaften. Nachhaltigkeit muss der Wirtschaftlichkeit gleich gesetzt werden. Es muss den gleichen Stellenwert wie Wachstum haben. Eine Existenz-Berechtigung gibt die Nachhaltigkeit den Unternehmen damit noch lange nicht. Sie schafft allein weder Purpose noch eine positive Customer Experience.
Purpose – ein gutes Stichwort. Wie lässt sich Purpose schaffen, Ines?
Zunächst einmal ist wichtig festzuhalten, wie eng Purpose und positive CX zusammenhängen. Das wird viel zu oft getrennt gesehen. Wenn jedoch ein Unternehmen oder eine Marke wirklich Purpose driven ist, dann wird das an jedem Touchpoint sichtbar. Und vor allem spürbar für die Kunden. Oft wird hier diskutiert, dass es ja wohl schwierig oder gar „overdone“ sei, zunächst mal langwierige Workshops oder Prozesse zur Purposefindung durchzuführen. Aus psychologischer Sicht lässt sich sagen: es ist eher eine Besinnung auf den ureigenen Purpose. Was war der Gründungsgrund? Welches Angebot wollte man den Menschen machen? Viele Unternehmen haben das in ihrer Überbürokratisierung vergessen und kreisen nur noch um sich selbst.
Gerät nun die Welt in einen Umbruch – wie jetzt durch die Corona-Krise – dann kann es aber sein, dass man den Sinn des Unternehmens neu ausrichten muss. Was macht eine Fluggesellschaft, die das Fliegen irgendwo sicher in ihrem Unternehmenszweck hat, wenn sie gezwungen ist am Boden zu bleiben? Abwarten und staatliche Hilfen in Anspruch nehmen? Oder muss sie den Sinn des Fliegens tiefer ergründen? Was gibt es den Menschen zu fliegen? Hat es mit großen Gefühlen der Freiheit zu tun? Der Erhabenheit? Wie kann ich als Unternehmen diesen Ursprungs-Sinn in neue, zukünftige Angebote übersetzen?
Und dann gibt es aus psychologischer Sicht klassische Suchfelder, die sich für Produkt-Neu-Entwicklungen oder Service-Angebot eignen, weil Menschen hier immer Support gebrauchen können.
Suchfeld 1: Wiederkehrende Lebensthemen
Menschen sind zunächst bewegt von den grossen Lebensthemen und Lebens-Übergängen: Erwachsen-Werden, Lebenspartner und Liebe finden, Kinder-Bekommen, Altern und Sterben. Marken können dabei Übergangshilfen sein. Always hat etwa eine tolle Kampagne für Mädchen auf ihrem Weg zum Frau-Sein entwickelt („Like a girl“). Die Anzahl der Dating-Portale spricht wohl für sich selbst. Das Altern hingegen wird durch wenige Marken sinnvoll begleitete. Es sind vor allem Produkte, die das Leben erträglicher oder das Altern weniger sichtbar machen sollen. Hier gibt es viel Sinn, der besetzt werden kann, viel Bedarf, der ungenutzt von Unternehmen liegengelassen wird.
Suchfeld 2: Alltägliche und innere Konflikte
Wir tragen täglich und ständig Konflikte mit uns selbst und anderen aus: Durchhalten versus Aufgeben, (Schokolade-)Essen versus Abnehmen, sich klein fühlen gegenüber dem grossen Chef, Aufschieben versus Sofort-Befriedigung. Für all diese Neigungen können uns Produkte Lösungen anbieten. Hilfestellungen, Erleichterungen – sie brauchen gar keine neuen Needs zu kreieren. Besser ist, sie beschäftigen sich mit den in jedem Menschen bereits vorhandenen Bedürfnissen. Und einer der Konflikte, die uns mehrmals täglich einen inneren Kampf liefert, ist: gut gegen „böse“. Wie bekommen wir unsere durchaus nicht immer freundlichen Neigungen gegenüber anderen in den Griff? Ja, und die haben wir alle. Auf der Autobahn genauso wie auf dem Fahrrad. Wer sich hier nicht selbst schon mal fluchen gehört hat, lügt. Wir denken eher Abwertendes über Chefs, auch Kollegen und ja auch über unsere Partner. Es ist eine ständige Herausforderung, dies wieder in ein kulturell verträgliches Mass zu bekommen.
Neben der Berufswahl zur Verarbeitung unserer Neigungen, können uns im Alltag Produkte und Marken helfen. Und dann endlich, machen sie Sinn für uns! Das dürfen sie gern auch nachhaltig tun und sie dürfen dabei Gewinn machen. Aber sie müssen zuallererst für unseren Seelenhaushalt Sinn machen!
Marken mit Purpose fügen sich sinnhaft in den Lebensalltag der Menschen ein. Und das an jedem Touchpoint. Customer Experience ist dann sinngesteuert – aus Sicht der Menschen und nicht mehr aus Sicht der Unternehmen allein.
Du siehst in der „Zerstückelung des Zusammenhangs“ eine grosse Gefahr. Wo lauert diese Gefahr?
Die Zerstückelung des Zusammenhangs kann man als einen kulturellen Trend bezeichnen. Die Menschen lesen keine Zeitschriften oder Zeitungen mehr, schnappen sich nur noch kleine Teilstücke an Informationen auf, in Push-Nachrichten oder ähnlichem. Wir neigen dazu, komplexe Zusammenhänge gar nicht wahrzunehmen oder sogar aktiv auszublenden. Unsere gesamte menschliche Kultur ist aktuell eine Silo-Kultur. Das gilt auch und insbesondere für die Unternehmen. Dort haben wir einen Digitalisierungs-Manager, einen CX Manager, einen Produkt-Entwickler, einen Research & Development Manager, einen Marktforscher oder Insight-Manager. Das grosse Ganze gerät jedoch aus dem Blick. Die Integration aller Sichtweisen ist die grosse Herausforderung. Du selbst schilderst immer wieder, wie schwer es ist die Abteilungen miteinander zu verbinden.
Sie wollen nicht interagieren, vermeiden es gar, wo es möglich ist. Als ob nicht jeder Unternehmensbereich auf die Wahrnehmung beim Kunden Einfluss hätte – und die Kunden-Experience in eine „Abteilung“ weggesperrt werden könnte.
Das Agieren der meisten Unternehmen bezieht sich nicht systematisch auf die Kunden-Perspektive. Viele kennen diese gar nicht und beschäftigen sich nur mit den «eigenen» Strukturen, ihres eigenen Bereichs.
Unsere Kultur denkt und agiert aktuell nicht ganzheitlich. Überhaupt ganzheitlich, was für ein Begriff. Er geht bei den meisten wohl als selbstverständlich durch. Zu selbstverständlich – denn er versteht sich nicht von selbst. Wir trennen Körper vom Geist, Mensch von Familie, Unternehmen von Kunden, Corona vom Klima. Symptome vom auslösenden Sinn. Selbst bei unserem eigenen Körper. Warum tun wir das? Weil es einfacher ist, als das Ganze zu betrachten. Weil man leicht verrückt werden kann, wenn man alles und jedes bei oder jedem Tun bedenkt. Weil man nicht der Mahner, der mit dem erhobenen Zeigefinger sein will, der der Spassverderber ist. Wir alle wollen geliebt werden. Weil es bequemer ist, nur den kleinen bequemen Ausschnitt zu betrachten? Nur die Zahlen des Unternehmens, nicht den Kunden? Nur den Lockdown in Deutschland, nicht die Impfnotwendigkeit weltweit? Oder vielleicht auch, weil man glaubt, selbst dann keine Freude mehr am Leben zu haben oder haben zu dürfen? Nicht mehr Geniessen und ja auch Konsumieren zu dürfen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man sich die Konsequenzen immer und jedes Mal klar macht.
Als Psychologin darf ich sagen: der Zusammenhang, das Ganzheitliche bringt auch enormen Spass. Den Sinn zu suchen, zu sehen und zu finden – etwas zu verstehen. Aha-Erlebnisse. Kann erschütternd sein, aber auch ein Hochgenuss. Und ich liebe es, den Zusammenhang bewusst zu geniessen!
Warum fällt denn Veränderung uns Menschen als auch den Unternehmen so schwer?
Die gängige Erklärung hierfür ist, dass Veränderung uns Angst macht. Angst kann zwar eine Rolle spielen, erklärt aber nicht jeden Entwicklungsstillstand. Für manche Menschen ist der Nervenkitzel gar der Grund sich zu verändern oder etwas zu probieren: Bungee Jumping, Apnoe Tauchen (Freitauchen), Klettern ohne Sicherung und diverse andere Extremsportarten.
Menschen brauchen für ihre Psyche immer beides: etwas Festes, das ihnen Sicherheit gibt, und die Verwandlung, weil der Stillstand sie ebenfalls mürbe macht. Unternehmen und Menschen beschäftigen sich jedoch gern nur mit dem Erhalt des Status Quo, des «So seins». Investiert wird in den Erhalt und Ausbau der Abläufe. Organisationslogik, Logistik, Controller, all das hat überhandgenommen. Es gilt: Einrichten statt Ausrichten. Man möchte zur Arbeit gehen, seine Abläufe haben, sich nicht mit der Aussenwelt – den Kunden – beschäftigen. Auch damit man selbst wichtig genug bleibt. Das ist Selbst-Genügsamkeit. Das Unternehmen kreist oft um sich selbst.
Überlegungen, wie man sich auf die Kunden ausrichtet, stehen oft hinten an. Paradox ist der Aufwand nach innen zum Selbst-Erhalt, immer mehr Bürokratie – gegenüber der Aufwandsvermeidung nach aussen.
Doch diese Bequemlichkeit strengt gleichzeitig unheimlich an. Es kostet und bindet Energie! Die Leute tun unheimlich viel, aber das alles bleibt in der kleinen Welt, in der sie sich eingerichtet haben.
Für Unternehmen und Menschen bedeutet das wiederum, eine Veränderung muss mehr Lust machen als alles beim Alten zu lassen. Wenn man es hingegen schafft, zu vermitteln, dass es Spass macht, etwas zu verändern, dann hat man den richtigen Hebel gefunden. In der Regel können aber Menschen und Unternehmen sehr viel «leiden», ehe sie sich verändern. In der Psychologie arbeiten wir gern mit dem Doppelsinn dieses «Leiden-Könnens»: es bedeutet eben das Leid gut ertragen zu können, besser als eine mögliche Veränderung.
Wie ordnest du den Begriff Customer Experience Management ein und welche Bedeutung hat das Thema in deiner Beratungstätigkeit?
In der tiefenpsychologischen Forschung geht es ja immer um das Erleben und das darauf resultierende Verhalten. Daher beschäftige ich mich wohl schon ein Leben lang auch mit der Erforschung der CX. Die Bedeutung des CXM hat jedoch in den letzten Jahren zugenommen, während der Insight Manger oder formale Marktforscher eher an Relevanz verliert. Dabei dürfte ja in keinerlei Hinsicht die Kundenperspektive verlieren. Leider besteht aber im Bereich der Marktforschung der Gedanke, man könne sie im Wesentlichen auch durch reine Online-Befragungen oder A/B Testing ersetzen. Ein echtes Verständnis der Menschen generiert man dadurch aber nicht. Es macht immer Sinn direkt mit den Menschen zu kommunizieren. Manchmal eben auch durch einen neutralen Dritten, dem Menschen dann mehr erzählen als dem Unternehmen direkt. Customer Experience und Marktforschung gehören daher für mich auch zwingend zusammen – ich kann das gar nicht anders denken.
Worin liegt der Unterschied zwischen qualitativer – tiefenpsychologischer – und quantitativer Forschung?
Qualitative und quantitative Forschungen unterscheiden sich nicht anhand des Grades der Wissenschaftlichkeit oder Aussagefähigkeit. Es sind unterschiedliche methodische Vorgehensweisen für unterschiedliche Fragestellungen. Das Wieviel ist besser quantitativ zu erforschen, wenn man z.B. wissen will, wie viele Diesel, Benziner oder E-Autos es gibt in Deutschland. Auch für die Frage, wie viele Menschen am liebsten Diesel oder Benziner mögen, ist es der richtige Ansatz. Möchte man aber wissen, wie ein Auto funktioniert und warum es eigentlich fährt, so ist der adäquate Weg, ein Auto „auseinander zu schrauben“, um die Funktionsweise zu analysieren. Das gilt symbolisch auch für die Menschen. Z.B. um zu verstehen, warum nun eine Mehrzahl der Diesel-Fahrer beleidigt ist, nicht mehr zu den Guten zu gehören. Dazu braucht man keine grosse Fallzahl, denn nach 20 – 30 „Modellen“ erkennt man ein Prinzip, das sich beschreiben lässt und zu einem Grundverständnis des Funktionierens führt.
Bei der wissenschaftlich angewandten qualitativen Forschung handelt es sich um einen beschreibenden und verstehenden Ansatz, der mit Wilhelm Dilthey seine Begründung findet. Dieser Ansatz ist nicht vergleichbar mit naturwissenschaftlich statistischen Verfahren. Sehr wohl aber sind die Erkenntnisse von sauber angewandter qualitativer Forschung „psychologisch repräsentativ“– da sie relevante Funktions- und Motivationsprinzipien hervorheben. Qualitative Marktforschung generiert vielmehr als nur „Thesen“. Sie liefert Verstehens- und Erklärungsmodelle, sofern sie wissenschaftlich angewandt wird. Und hier liegt nicht selten das Problem: Viele qualitative Forscher forschen nicht theoriegeleitet, sondern werten „intuitiv“ aus. Sie „sammeln“ schlicht die qualitativen Aussagen der Befragten – und zählen im schlimmsten Fall die Häufigkeiten.
Dies ist natürlich auf Basis einer geringen Fallzahl unzulässig. Klug ist sicher die beiden Ansätze viel besser als bisher miteinander zu verknüpfen, womit wir wieder bei dem Zusammenhang wären. Dazu bedarf es aber Experten auf beiden Seiten. Und eine kluge Einschätzung der Chancen, des jeweils anderen Vorgehens. Das funktioniert, wenn niemand das eine Verfahren dem anderen „unterordnen“ will oder als blosse Thesengenerierung abtut.
Welches persönliche Ziel möchtest du noch erreichen, Ines?
Mein grösster Wunsch wäre ja zaubern zu können. Ich habe so eine Ahnung, dass das nichts mehr wird in diesem Leben. Daher konzentriere ich mich darauf, die morphologische Psychologie so weit wie möglich zu verbreiten und zu etablieren. Dazu fühle ich noch ein paar Bücher in mir, die hoffentlich bald heraus dürfen.
Und dann wäre es natürlich toll, irgendwann mit dem psychologischen Schreiben auch etwas Geld zu verdienen – ein wenig weniger hart und ein bisschen häufiger nur kreativ arbeiten zu können. Falls Du also einen Sponsor weisst?
Fortsetzung folgt
Ines, ich bedanke mich herzlich für das inspirierende und offene Gespräch. Danke, dass du deine Erkenntnisse, deine Erfahrung um all die wichtigen Zusammenhänge und deine Weitsicht so grosszügig mit uns teilst.
Unbeantwortet lassen wir an dieser Stelle vorerst deine Antworten auf weitere spannenden Fragen: Gehören Customer Experience Management und Marktforschung zusammen? Sind Frauen die „besseren“ CX-Manager? Wie lassen sich Kundenfeedbacks in „actionable insights“ übersetzen? Warum ist die unternehmensinterne Zusammenarbeit zwischen UX, CX und Brand Management oft nicht ganz so einfach? Damit hätten wir den Rahmen dieses Artikels definitiv gesprengt. Damit sei aber auch gesagt: Fortsetzung folgt, liebe Ines.
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Über Purpose und Customer Experience
Über die Zerstückelung des Zusammenhangs