Vom Mythos zum Mehrwert

von lönneker & imdahl rheingold salon

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Vom Mythos zum Mehrwert

von lönneker & imdahl rheingold salon

Zu klein, zu unwissenschaftlich, zu umständlich. Obwohl viel genutzt, die Vorurteile gegenüber qualitativer Forschung sind zahlreich. Daran wird sich auch mit Künstlicher Intelligenz nichts ändern. Ines Imdahl und Jens Lönneker vom Rheingold Salon, beide Diplom-Psychologen und leidenschaftliche qualitative Forscher, räumen mit den Mythen rund um die qualitative Forschung gründlich auf.

Wer qualitativ forscht, sieht sich im beruflichen Alltag einigen Vorurteilen gegenüber: So richtig wissenschaftlich sei die Forschung wohl nicht. Schon wegen der geringen Fallzahlen. Bestenfalls sei sie geeignet zur Thesengenerierung. Diese Thesen bedürften dann, so spannend oder überzeugend sie auch sein mögen, einer quantitativen beziehungsweise repräsentativen Verifizierung.

Nicht selten wird der qualitative Teil der Forschung auch etwas belächelt oder zumindest nicht ganz so ernst genommen. Motto: „Ja, ja, das machen wir auch – mal eben – mit“. Keine Statistik, keine Zahlen, einfach offen nach der Meinung fragen und zusammenstellen, was die Menschen gesagt haben – fertig ist die Forschung. Hinter einer solchen Vorgehensweise steckt im Übrigen oft die Vermutung, qualitative Marktforschung könne man sich leicht selbst aneignen. Wie auch beim Thema Marketing und Psychologie glauben hier die meisten per se Experten zu sein. Einige große Forschungsinstitute bilden gar ihre qualitativen Forscher in nur zwei bis drei Tagen aus. Zum Vergleich: Im Rheingold Salon braucht das bis zu vier Jahre.

UNSERE WICHTIGSTEN MYTH-BUSTER

1. Wissenschaftlichkeit hängt nicht von den Fallzahlen, sondern von der Theorie und der systematischen Auswertung ab.

2. Quantitative Forschung kann qualitative Forschung nicht verifizieren, da beide Ansätze andere Aufgabenstellungen lösen und andere Fragen beantworten. Die Ansätze stehen in einem nützlichen Ergänzungsverhältnis.

3. Qualitative Forschung ist kein Beiwerk, sondern muss aufwendig erlernt und eingeübt werden – es ist kein leichter Weg und erfordert Zeit, Ausbildung und viel Grundlagen-Know-how

4. KI ist eine Hilfe, wenn der theoriegeleitete Systematisierungsansatz von dem Auswertungsprogramm abgebildet wird – ansonsten ist KI-Auswertung nicht besser als „Bauchgefühl“, nur weniger emotional.

Ja, und dann gibt es jetzt schließlich auch noch die KI, die die langwierige Auswertung von offenen Fragen übernehmen kann, Insights auf Knopfdruck liefert und eine bisher unbekannte Berechenbarkeit in die qualitative Forschung bringt. Schauen wir mal etwas genauer hin.

1. Gute qualitative Forschung folgt einer wissenschaftlich-basierten Theorie

Die Mythen rund um die qualitative Forschung basieren vor allem auf den ständigen Abgrenzungsversuchen gegenüber der quantitativen Forschung. Zahlen wirken irgendwie „zuverlässiger“ als das Wort oder die Beschreibung. Dabei hängen Erkenntniswert und Wissenschaftlichkeit eines Vorgehens keineswegs von der Art der Daten, also qualitativ oder quantitativ, sondern davon ab, ob eine theoriegeleitete und systematische, erlernbare Durchführung und Auswertung möglich ist.

Übrigens wurde die Auseinandersetzung rund um beide Forschungstypen in Deutschland schon in den 1950er und 60er Jahren geführt: Subjektivität, Nicht-Reproduzierbarkeit und die angebliche Unwissenschaftlichkeit als Vorbehalte gegenüber der qualitativen Forschung standen dem Vorwurf der Sinnlosigkeit, des fehlenden Zusammenhangs und der Irrelevanz von Datenbergen der quantitativen Forschung gegenüber. Das manchmal etwas kopflos wirkende Horten von Daten hat mit Big Data heute einen neuen Höhepunkt erreicht.
Die inzwischen immer häufiger zum Einsatz kommenden KI-gestützten Tools ersetzen die Einordnung in Sinnhaftes und den Zusammenhang nicht. Ein Verstehen der Bedeutung für das Menschliche ist Kern der Anlage und Auswertung der qualitativen Forschung – das bringt eine KI nicht einfach mit, das muss sie lernen, so wie der Forscher auch.

Zentral ist: Es gibt eine Theorie, die sowohl dem Forschungsaufbau, der Entwicklung eines Frage-Guides als auch der Auswertung zugrunde liegt. Das gilt auch in jeder Weise für den digitalen Raum. Die Theorie kann benannt, ihre Methoden und Auswertungskriterien können erlernt werden. Wenn lediglich offene Fragen genutzt und die Antworten lose oder nach Bauchgefühl zusammengestellt werden, dann ist das noch keine qualitative Forschung. Abhängig von der jeweiligen Theorie, erfordert das Forschen jahrelanges Einüben und Erlernen, um möglichst umfänglich die Fülle der Alltagsdaten beschreiben, analysieren und systematisieren zu können.

2. Qualitative Forschung hat vielfältige wissenschaftliche Systematisierungsmodelle zum Ursprung

Das, was unter qualitativer Markt- und Medienforschung zusammengefasst wird, stammt aus gänzlich unterschiedlichen Disziplinen – aus wissenschaftlichen Disziplinen, etwa aus Psychologie, Ethnographie, Linguistik oder Soziologie werden Modelle herangezogen. Die Heterogenität der Ansätze verstärkt sich noch dadurch, dass selbst innerhalb einer Wissenschaft unterschiedliche Modelle in der qualitativen Forschung Anwendung finden. Zum Beispiel in der Psychologie: Hier wird etwa auf Basis von tiefenpsychologischen, kognitionspsychologischen, neuropsychologischen Modellen ermittelt. Selbst innerhalb der Tiefenpsychologie gibt es noch einmal Varianten, die sich stärker auf Jung oder Adler berufen, systemisch ausgerichtet sind oder mit einem modernen eigenständigen Ansatz wie der Morphologischen Psychologie operieren.

Hinzu kommen Ansätze wie die Semiotik, die im akademischen Umfeld fächerübergreifend von der Philosophie bis hin zu den Sprach- und Sozialwissenschaften von Bedeutung ist. Einen guten Überblick über das Spektrum gibt das Handbuch „Qualitative Marktforschung in Theorie und Praxis“ von Gabriele Naderer und Eva Balzer.

DER MEHRWERT VON QUALITÄTS-FORSCHUNG

  1. Alltagserleben der Menschen wird nachvollziehbar, sinnhaft und greifbar für Unternehmen, Werbetreibende, Marketeers und Entscheider:innen.
  2. Komplexität und Vielfalt bleiben erhalten und liefern relevante Details für zielgenaue Kundenansprachen.
  3. Erklärungen stiften Zusammenhang und Sinn – das gilt unternehmensintern genauso wie für die Kundenansprache extern.
  4. Qualitative Forschung deckt oft im Unternehmensalltag übersehene Strukturen auf, die helfen die Perspektiven sinnvoll zu erweitern.

Um es deutlich zu sagen: Der bloße Einsatz von digitalen oder KI-basierten Auswertungshilfsmitteln stellt keinen eigenständigen Systematisierungsansatz dar. Denn: Die Modelle gehen von unterschiedlichen Systematisierungen aus, die als komplexes System in die verwendeten KI- oder in Deep-Learning-Modelle eingebracht werden müssen. Wertet die KI einfach nur Sprache oder andere allgemeine Syntax aus – so ist das weder objektiv noch wissenschaftlich. Denn es werden hier Daten lediglich gesammelt und dann „willkürlich“ zusammengestellt.
Das ist dann eine Pseudosystematisierung, die auf dem Bauchgefühl der Programmierer beruhen, die oftmals nicht einmal Marktforscher sind.

3. Sinn & Zusammenhang – Erklären und Verstehen sind Kennzeichen und Mehrwert qualitativer Ansätze

Wie kommt es aber, dass derart heterogene wissenschaftliche Disziplinen auf ein und demselben Feld in einem Wettbewerb stehen können? Was ist das Gemeinsame und Verbindende? Und gibt es das überhaupt? Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Kleining charakterisiert die Besonderheit qualitativer Ansätze wie folgt:

  • Alltagsbezug in Themenstellung und Methoden
  • Offenheit der Forschungspersonen beim Umgang mit dem Forschungsgegenstand
  • Ausgedehnte Feldforschung
  • Einbeziehung der forschenden Subjekte in den Erkenntnisprozess
  • Geringe Abstraktion der Daten – Erhaltung ihres Sinnes
  • Variation der Methoden, auch Einbeziehung von Quantifizierungen (man möchte ergänzen von digitalen, KI-basierten Modellen)
  • Anpassung der Verfahren an den Forschungsgegenstand
  • Analyse durch Vergleich der Daten, Suchen und Finden von Gemeinsamkeiten
  • Vorlage von konkreten Ergebnissen, keine bloße Methodendiskussion
  • Theoriefähigkeit der Ergebnisse

Die Attraktivität qualitativer Forschung liegt demnach darin, dass sie phänomenale Zusammenhänge in ihrer Komplexität erhält und trotz eines theoriegeleiteten Vorgehens eine große Offenheit und Beweglichkeit im Forschungsvorgehen ermöglicht. Bei auf die Ermittlung von quantitativen Daten ausgerichteter Forschung wird dagegen meist ein höherer Grad an Standardisierung und Abstraktion angestrebt, der den unmittelbaren Zugang zu diesen ursprünglichen komplexen Zusammenhängen kaum mehr ermöglicht.

Fortschreitende digitale Transformation legt leicht die These nahe, dass die qualitative Forschung hierdurch ebenfalls berechenbarer und objektiver werde. Dies ist jedoch in zweierlei Hinsicht diskutabel: Erstens ist die qualitative Forschung nicht weniger objektiv als quantitative (sofern sie theoriegeleitet ist). Und zweitens ist die Digitalisierung – optimal eingesetzt – eine Beschleunigung, aber sie liefert keine Erklärung, sondern wertet gemäß der programmierten Vorgaben aus. Sie schafft nicht den Zusammenhang, sondern zunächst einmal nur weitere Daten.

Indem qualitative Forschung Zusammenhänge und Sinn systematisch zu erfassen sucht, hat sie ein methodisches Ziel, ist mehr als eine reine Datenform und gewinnt gerade in Zeiten von Sinn- und Purpose-Entwicklung der Unternehmen eine neue, noch relevantere Bedeutung.

Wichtig ist hier: Quantitative Forschung verifiziert nicht die qualitativen Erkenntnisse. Das kann sie gar nicht. Prof. Gerhard Kleining schreibt hierzu: „Qualitative Untersuchungen ohne Quantifizierung sind möglich; natürlich kann man auf der komplexeren qualitativen Ebene bleiben. Dagegen sind rein quantitative Untersuchungen riskant, wenn die Qualitäten, die den Mengen oder Häufigkeiten zugrunde liegen, nicht ausreichend bekannt sind.“ Und weiter: „Die beiden Abstraktionsstufen können nicht zur wechselseitigen Überprüfung herangezogen werden, besonders nicht die qualitative durch die quantitative.“

von Ines Imdahl & Jens Lönneker, erschienen in planung&analyse am 23.06.2023

abrufbar unter Qualitative Forschung: Vom Mythos zum Mehrwert – planung&analyse (horizont.net)