In einer Welt, in der alle senden, ist „Zuhören“ gefragt. Die Markt- und Medienforschung braucht dafür neue Konzepte. Jens Lönneker hat zu unserer neusten Studie zum Thema Medienakzeptanz & Medienkritik ein Interview gegeben. Lesen Sie im Interview mit Succeet, was es damit in Deutschland auf sich hat.
Herr Lönneker, Sie haben sich in einer Studie mit der Medienakzeptanz und Medienkritik in Deutschland befasst. Wie steht es um die Glaubwürdigkeit der Medien angesichts von „Fake News“ und „Lügenpresse“-Vorwürfen?
Ungefähr 75% der Deutschen haben mehr oder weniger großes Vertrauen in die etablierten Medien. Im Westen sind es mit 77% etwas mehr als im Osten mit 69%. Aber Vorsicht: 25% der erwachsenen Bevölkerung und damit eine große Minderheit entwickelt wirklich ausgesprochen kritische Haltungen gegenüber den etablierten Medien. Im Osten Deutschlands ist diese Minderheit historisch bedingt mit 31% größer als im Westen. Dort macht sie aber auch noch immerhin 23% der Bevölkerung aus. Bezogen auf die Medienakzeptanz haben wir es daher mit einer Spaltung der Gesellschaft zu tun. Das ist sehr beunruhigend. Denn eine funktionierende Demokratie setzt nach Ansicht wichtiger Medienforscher eine breite Akzeptanz der großen Medien voraus.
Übertreiben Sie da nicht doch etwas? Muss man wirklich sofort die Demokratie in Gefahr sehen, nur weil Menschen die Medien kritisch bewerten?
Lassen Sie die Befunde und die Zahlen für sich sprechen: 68% der befragten Medienkritiker fühlen sich von System und Politik allein gelassen. 32% sind bekennende AFD-Wähler. Zudem haben die Medienkritiker in den ausführlichen Einzelinterviews immer wieder ausgesprochen systemkritische Haltungen entwickelt. Man kann sagen, dass viele dieser Menschen nicht mehr den Eindruck haben, dass sie in der Gesellschaft mit ihren Anliegen Gehör finden. Die meisten von ihnen führen zwar ein ganz normales Leben, fühlen sich aber quasi fremd in ihrem eigenen Land – ein Phänomen, das auch in anderen westlichen Ländern existiert und zum Titel eines Erfolgs-Buches aus den USA wurde. Ihnen wieder ernsthaft zuzuhören, ist daher sehr wichtig. Denn Zuhören bedeutet Beachtung, Zuwendung und damit Gehör finden.
Aber wäre es nicht geradezu fatal, Menschen mit medien- und systemkritischen Einstellungen durch „Zuhören“ auch noch eine Bühne zu geben?
Sie bekommen diese Bühne im Grunde jetzt schon. Gerade weil sie wenig Gehör mit ihren persönlichen Anliegen finden, spielen sie gerne auf der Klaviatur der gesellschaftlichen Reizthemen, durch die sie dann Beachtung erhalten: wie etwa Sympathiebekundungen für die AFD, Kritik am Umgang mit Flüchtlingen, In-Frage-stellen des Klimawandels, EU- und Systemkritik, Behauptung, die Medien seien „von oben“ gesteuert. In den vertiefenden Gesprächen sind wir oft aber auf andere Hintergründe gestoßen.
Das hat meines Erachtens auch Konsequenzen für die Markt- und Medienforschung: Es braucht neue Explorations-Konzepte – ein neues Zuhören, um die Perspektive dieser Menschen aufzugreifen. Wir kennen bislang das Phänomen, dass irrationale oder emotionale Beweggründe des Verhaltens rationalisiert werden. Hier und heute muss man eigentlich von einer „Reizionalisierung“ sprechen. Denn weil das Gefühl besteht, kein Gehör für die eigenen Anliegen zu finden, werden diese psycho-logisch mit Reizthemen verwoben. Es geht also darum, im Zuhören die wichtigen Themen jenseits der „Reizionalisierung“ zu erfassen.
Und welche Themen haben Sie da gefunden? Was führt zur Medienkritik?
Hier konnten wir drei große Themenbereiche differenzieren:
Medienrückzug als Mittel gegen Komplexität und Dauererregung
Das Medienangebot hat sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter vergrößert. Psychologisch lässt sich von einer Vervielfältigung der Wirklichkeiten sprechen. Die Medienwelt ist deutlich komplexer geworden. Jedes Medium entwickelt einerseits eine eigene Perspektive und einen eigenen Fokus auf die Wirklichkeit und andererseits ähneln sich viele wiederum so stark, dass Medienkritiker häufig sowohl die Vielfalt als auch den Einheitsbrei beklagen. Erlebt wird aber insgesamt eine enorme Masse beziehungsweise eine Flut an Medienangeboten. Die ständige Erregung wird diesen Medienkritiker: innen daher zu viel, so dass sie mit Medien-Rückzug reagieren.
Medien-Aggression als Mittel gegen enttäuschte Lebensträume
Viele Medienkritiker: innen klagen über große und viele kleine Enttäuschungen bei ihren Anstrengungen, die eigenen Lebensziele und -träume zu erreichen. Dafür machen sie einen gesamtgesellschaftlichen Kurs verantwortlich, der das „Land vor die Wand fährt“ (Zustimmung Medienkritiker: 78 Prozent) und den sie durch die Medien grundsätzlich unterstützt sehen. Dies führt zu einer hohen Aggression gegenüber Medien und Politik.
Medien-Bashing als insgeheime Hoffnung auf Besserung
Etablierte Medien werden für diese Menschen zu einer Art Reibungsfläche. Sie setzen sich immer wieder mit ihnen, aber kritisch-negativ, auseinander. Psychologisch betrachtet besteht hier noch eine Beziehung und eine latente Hoffnung auf Besserung. Allerdings sind auch diese Medienkritiker: innen tendenziell auf dem Absprung.
Das Interview ist am 17.10.2023 auf succeet.de erschienen. Hier nachlesen.